Gäbe es einen Wettbewerb für die am meisten vernachlässigten Bahnlinien der Schweiz, dann hätte das St. Galler Rheintal noch vor 15 Jahren mühelos einen Spitzenplatz erreicht. Nicht einmal der Stundentakt auf der Strecke St. Gallen-Chur war Teil der Fernverkehrskonzession der SBB. Jetzt, mit dem Fahrplanwechsel, hat die Region endlich Bahnverbindungen, die ihrer grossen wirtschaftlichen Dynamik der letzten Jahrzehnte gerecht werden.
Rheintal rückte vom Rand ins Zentrum
Die enorme Entwicklung ist der Spiegel davon, dass das Rheintal spätestens seit der Osterweiterung der EU vom Rand der Schweiz in ein Zentrum Europas gerückt ist, zusammen mit der ganzen Bodenseeregion. Der damit verbundene verkehrspolitische Ausbau beschränkte sich aber seit Jahrzehnten auf die Autobahn.
Bahnfachleuten war längst klar, welchen Nachholbedarf es bei der Schiene gab und wie gross das Potenzial dafür war. Nur wollte die Hierarchie der SBB davon nichts hören. Sie konzentrierte sich abgesehen von den Alpentransversalen auf die grossen Zentren im Dreieck Zürich-Bern-Basel. Genauso wie die verkehrspolitisch Verantwortlichen in Bundesbern. Auf diesem Hintergrund lancierten Karin Keller-Sutter und ich, neu in den Ständerat gewählt, Ende Februar 2012 das «Bodensee-Rheintal-Y», das auf Vorschlägen von Bahnfachleuten beruhte. Es war mehr als fünf vor zwölf: Im Parlament wurde die grösste und wichtigste Bahnvorlage seit langem und für lange beraten; das St. Galler Rheintal fand darin nicht statt.
Politischen Tempolauf hingelegt
Das Herzstück des Y waren neue Doppelspurabschnitte im Rheintal als Voraussetzung für den Halbstundentakt der schnellen Verbindungen. Auf nationaler Ebene gilt der Halbstundentakt als Basis für einen starken öffentlichen Verkehr mit entsprechenden Umsteigeeffekten. Was folgte, war ein in der neueren Schweizer Bahngeschichte wohl einmaliger politischer Tempolauf. Obwohl die Forderung vorher kein Thema gewesen war und in Bundesbern niemand darauf gewartet hatte, fand sie innert eines halben Jahres Aufnahme in die Vorlage der vorberatenden Kommission und später in die Beschlüsse des Parlaments. Anfang 2014 wurde die Bahnausbauvorlage mit grossem Mehr in der Volksabstimmung gutgeheissen. Der Grund für den Erfolg: Nicht nur eine gut begründete und längst fällige Forderung, sondern auch die eindrückliche Unterstützung durch die ganze Region. Abgestimmt auch auf die Interessen anderer Regionen.
Die Bahnverbindungen in der Ostschweiz sind heute im Fern- wie im Regionalverkehr an einem ganz anderen Ort als noch vor zehn, fünfzehn Jahren. Realisiert sind nicht nur die schnellen Verbindungen nach Zürich, sondern mit dem Halbstundentakt auch das Herzstück des Y. Ende 2027 folgt als zweite Etappe die Hochrheinverbindung über Konstanz nach Basel. Auch der Voralpenexpress ist ständig weiterentwickelt worden. Die Ostschweiz hat bei der Bahn stark aufgeholt.
Weitere Entscheide stehen 2026 an
Dabei darf es aber nicht bleiben. Gesichert werden müssen für die Zukunft die schnellen Verbindungen Zürich-St. Gallen, in der nächsten Phase mit Beschleunigungen auf der Strecke Winterthur-St. Gallen. Nur so kann St. Gallen definitiv in den Taktfahrplan mit Zügen zur vollen und halben Stunde eingebunden werden. Die entsprechenden Entscheide stehen 2026 an, Verteilkämpfe sind absehbar. Die Ostschweiz wird nur etwas erreichen, wenn sie den nötigen politischen Druck aufbaut.
In einer längeren Perspektive steht eine weitere Stärkung der Verbindung nach München zum Stundentakt im Vordergrund. Die zweistündliche Verbindung, die es inzwischen gibt, ist stark nachgefragt. Angedacht werden sollte auch die Weiterentwicklung des Bahnhofs St. Gallen vom De-facto-Endbahnhof zum vollwertigen Durchgangsbahnhof. Schliesslich:
Ein Schönheitsfehler der neuen schnellen Verbindungen vom und ins Rheintal ist, dass man zum Teil in St. Gallen umsteigen muss
Als Minimum braucht es einen Umstieg auf demselben Perron. Das sollte rasch korrigiert werden. Gute und erschwingliche Bahnverbindungen sind die Schlüsselinfrastruktur für das 21. Jahrhundert. Für den eindrücklichen Aufholprozess der Ostschweiz in den letzten Jahren waren politische Entscheide massgebend. Investitionen in die Bahn sind nicht einfach Ausgaben, sondern Investitionen in die Zukunft.