17.08.2021

Eigenständig und kritisch bleiben

Die Lesegesellschaft Lachen-Walzenhausen feiert am 21. August ihr 150-jähriges Bestehen.

Von Astrid Zysset
aktualisiert am 03.11.2022
Hans-Ulrich Sturzenegger stand schon früh in Verbindung mit der Lesegesellschaft Lachen- Walzenhausen. Bereits bei der 100-Jahr-Feier war er zugegen. Damals trug sein Vater den Jubiläumsbericht vor, und Hans-Ulrich musste vor den Mitgliedern ein eigens für den Anlass verfasstes Gedicht aufsagen. Das Manuskript dazu hatte er an jenem Abend jedoch zu Hause vergessen. «Blut und Wasser hatte ich geschwitzt, aber glücklicherweise konnte ich es auswendig aufsagen, ohne ins Stocken zu geraten.»Heute, 50 Jahre später, steht das nächste Jubiläum an. Am 21. August feiert die Lesegesellschaft ihr 150-jähriges Bestehen. Hans-Ulrich Sturzenegger ist mittlerweile Präsident. Als solcher hat er unlängst die Einladungen verschickt. Ein Essen, Musik, Ansprachen und ein Referat zum Thema «Lesegesellschaften: Historisches Relikt oder zeitgemässer Integrationsfaktor?» stehen für die geladenen Gäste auf dem Programm. Doch warum wird das Jubiläum nicht öffentlich gefeiert? «Fast alle unsere Anlässe sind öffentlich. Der Geburtstag betrifft aber vor allem uns. Deshalb begehen wir das Fest in diesem Rahmen», erklärt Sturzenegger.Am Jubiläumsanlass ist ein Fotograf zugegen. Er wird die Feier in Bildern festhalten. Die Gäste erhalten später ein Fotoalbum. Als Erinnerung. Eine Chronik zum 150-jährigen Bestehen wird wider Erwarten nämlich nicht erscheinen. Denn: «Unsere Geschichte entspricht fast 1:1 derjenigen der Lesegesellschaft Aussertobel, welche vergangenes Jahr zu ihrem 150-jährigen Bestehen ein Buch herausbrachte», so Sturzenegger. Alle Lesegesellschaften im Vorderland hätten ähnliche Aufgaben, eine vergleichbare Struktur. «Unsere Chronik wäre daher ähnlich ausgefallen und deshalb nicht mehr gleich spannend zu lesen gewesen.» Für geschichtlich Interessierte seien die Protokollbücher ja da. Falls jemand etwas nachlesen möchte, könne er hier einen Blick hineinwerfen, sagt der Präsident und nimmt eines der Bücher zur Hand, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Es beinhaltet die Protokolle von 1870 bis 1899. Geschrieben ist es in Kurrentschrift. «Ich kann diese Schrift glücklicherweise lesen», sagt Sturzenegger, als er die Seiten durchblättert. «In den letzten Wochen habe ich alle Protokollbücher gelesen.»Ein zuversichtlicher Blick in die ZukunftCoronabedingt wird das Jubiläum ein Jahr später gefeiert. Denn gegründet wurde die Lesegesellschaft Lachen-Walzenhausen bereits 1870. In den ersten Jahrzehnten beschäftigten sich die Mitglieder vor allem mit der Wissensvermittlung im Rahmen von landwirtschaftlichen Themen. Es wurden zwei Baumschulen gepflegt, Setzlinge gezüchtet, Sauerkraut hergestellt und ein Stier angekauft. Strassenbau, Schulen und politische Auseinandersetzungen folgten. Heute gilt die Lesegesellschaft Lachen als die bedeutendste politisch aktive Gruppierung in Walzenhausen. Die Gemeinde zählte einst vier Lesegesellschaften. Doch Güetli, Dorf und Platz lösten sich auf. Lachen blieb weiter bestehen und zählt mittlerweile 62 Mitglieder. Rund zehn Anlässe organisiert die Lesegesellschaft pro Jahr. Und alle sind gut besucht. Angst vor der Zukunft braucht die Lesegesellschaft somit nicht zu haben, oder?«Am 100-Jahr-Jubiläum waren die Anwesenden der Auffassung, dass die Gruppierung immer bestehen werde. Heute sage ich: Wir blicken zumindest zuversichtlich in die Zukunft.» Krisen hatte die Lesegesellschaft auch schon zu bewältigen. Hans-Ulrich Sturzenegger ist seit sieben Jahren Präsident. Zuvor fand sich länger niemand, der das Amt übernehmen wollte. Die Situation spitzte sich dermassen zu, dass sogar die Statuten abgeändert wurden, damit im Bedarfsfall eine Auflösung schneller und einfacher vonstattengehen könnte.Ob Krisen- oder Blütezeiten, detailliert festgehalten ist dies alles in den Protokollbüchern. Hans-Ulrich Sturzenegger umschreibt sie als Schatz, offenbaren sie doch spannende Einblicke in die Geschichte. So findet sich 1941 eine Diskussion um die Einbürgerung von Ernst Vitzthum in den Büchern. Jener wurde Jahre später zum Gemeindehauptmann und 1965 zum Regierungsrat gewählt. Genau zehn Jahre zuvor traf sich der Vorstand der Lesegesellschaft in der heimischen Stube der Sturzeneggers, um das Inserat zu entwerfen, das dessen Vorgänger Werner Hohl zum Regierungsrat portieren sollte. Die heimische Stube war nicht zufällig gewählt. Die Mutter von Hans-Ulrich Sturzenegger war hochschwanger, sein Vater wollte dennoch nicht auf die Vorstandssitzung verzichten. Der Kompromiss war, dass die Mutter – somit als erste Frau – bei der Sitzung des Vorstands in der Stube zugegen war.Wissenserweiterung und MeinungsbildungDie parteiunabhängige Lesegesellschaft Lachen-Walzenhausen ist fester Bestandteil in der Gemeinde. Gemäss Sturzenegger wird geschätzt, dass «alle politischen Schattierungen» bei den Diskussionen zugelassen sind. Parolen werden nicht gefasst. Die Lesegesellschaft sei in erster Linie zur Wissenserweiterung, Meinungsbildung, zum geselligen Austausch wie auch zur Kandidatensuche für öffentliche Ämter da.Viele Errungenschaften wie etwa die Elektrifizierung der Wohnhäuser und die Strassenbeleuchtung in Lachen um 1908 gehen auf ihr Konto. Sturzenegger: «Die ‹obere Rhode›, wie man Lachen als oberen Gemeindeteil Walzenhausens früher nannte, gab sich schon immer sehr eigenständig. An kreativem, aber auch kritischem Denken halten wir fest. Gut möglich, dass dies unter anderem den Erfolg der Lesegesellschaft ausmacht.»

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