Erst seit vier Jahren bestreitet Simon Vitzthum Bahnrennen, der frühere Mountainbiker hat sich bisher in jeder Saison gesteigert. Die Bilanz vom vergangenen Jahr dürfte aber schwer zu übertreffen sein: Fünf Goldmedaillen an Schweizer Meisterschaften, ein Schweizer Rekord, ein Top-5-Platz an der WM und auch ein Sieg auf der Strasse (Berner Rundfahrt) zieren Vitzthums Palmarès des Jahres 2022.An seiner ersten richtigen WM führte er das Team anDie Erfolge im nationalen Championat und auf der Strasse glückten Vitzthum bereits vor den Weltmeisterschaften auf der Olympia-Bahn von 2024 in Saint-Quentin-en-Yvelines bei Paris. Dennoch überraschte es viele, dass Swiss Cycling in der Presseankündigung vor den Weltmeisterschaften den 27-jährigen Rheinecker als Hoffnungsträger des Schweizer Teams darstellte. Immerhin gehörte mit Vitzthums Teamkollegen Claudio Imhof (Bischibikes Tobler Racing) auch der vierfache EM-Medaillengewinner zum Aufgebot. Der Routinier ist allerdings nach einem schweren Trainingssturz vor einem Jahr erst wieder auf dem Weg zu seinem einstigen Leistungsvermögen. Als Neunter in der Einzelverfolgung zeigte Imhof, dass er diesem Ziel näherkommt.Für «Teamleader» Vitzthum war es nach eigener Aussage die erste richtige WM (vor einem Jahr in Roubaix war er nur in der Teamverfolgung-Quali eingesetzt worden). Doch Vitzthum wurde der Ankündigung gerecht, er nahm Imhof, der ihn einst zum Bahnfahren schleppte, gar den Schweizer Rekord ab. «Nur um 0,3 Sekunden, aber das reicht», sagt Vitzthum. Im Vier-Kilometer-Zeitfahren (mit stehendem Start) wurde er mit 4:07,326 Fünfter an der WM. Für den Einzug in den kleinen Final und somit das Duell um Bronze fehlten lediglich sechs Zehntelsekunden. Auf 4:10 hatte er seine Bestleistung vor der WM gedrückt, auf der Olympiabahn ging’s nochmals um drei Sekunden runter.Das war nur möglich, weil er die Anweisung von Nationaltrainer Mickaël Bouget in den Wind schlug: «4:10,2 war die Zeit, die ich anstrebte», sagt Vitzthum. Damit wäre er ungefähr Zehnter geworden. Aber nach zwei Runden fühlte er, dass mehr drin lag und beschleunigte entsprechend. Vitzthum lag gar bis Mitte des dritten Kilometers in Führung, noch vor Filippo Ganna. Auf dem letzten Kilometer wurde der Rheintaler etwas langsamer, allerdings weit von einem Einbruch entfernt: «Es ist eine Stärke von mir, dass ich schnell anfahren kann, ohne im Finish dafür übermässig büssen zu müssen, das zeigen auch Tests», sagt Vitzthum. Er sei einer, der nicht immer nur linear fahre und oft auf sein Gefühl höre.Vielleicht profitierte Vitzthum in der Einzelverfolgung davon, dass er vorher unverhofft einen Frei-Tag bekam: Der Schweizer Vierer war in der Mannschaftsverfolgung schon in der Quali ausgeschieden. «Ich konnte mich daher voll auf die Einzelverfolgung konzentrieren», sagt Vitzthum. Die Enttäuschung über den zehnten Platz mit der Mannschaft konnte er schnell überwinden: «Ich weiss, dass die Top 8 für uns drinliegen», sagt Vitzthum, «in Paris machten wir einige kleine Fehler, weshalb es knapp nicht reichte.» Unmittelbare Konsequenzen hat das schlechte Abschneiden an der WM ohnehin nicht: Die Qualifikationsphase für die Olympischen Spiele 2024 beginnt erst im nächsten Februar mit den Europameisterschaften in Grenchen.Der Mannschaftsvierer ist die Grundlage für die Olympia-Selektion. Zehn Mannschaften können im Sommer 2024 in Paris an den Start gehen. Wenn sich die Schweizer Mannschaftsverfolger für die Olympischen Spiele qualifizieren, kann Swiss Cycling wahrscheinlich auch die weiteren olympischen Disziplinen im Ausdauerbereich (Omnium, Madison) besetzen. Simon Vitzthum hegt Ambitionen auf einen olympischen Start im Omnium. Der beste Schweizer in dieser Disziplin ist er aktuell. Es ist sogar möglich, dass Vitzthum die Selektion schafft, wenn das Team scheitert, es gibt auch noch Plätze via Weltrangliste.Dort belegt Vitzthum nach den Weltmeisterschaften den zweiten Platz im Omnium und gar den ersten in der Einzelverfolgung. Allerdings kommen diese Klassierungen auf den Prüfstand, wenn in der Olympia-Qualiphase wohl alle Cracks aufs volle Programm setzen.Im Omnium war er zu nahe an der Spitze für die FluchtNach dem Husarenritt in der Einzelverfolgung zeigte Vitzthum auch im Omnium eine gute Leistung. Die aus vier Wettbewerben bestehende Disziplin, die an einem Tag ausgetragen wird, fand am letzten Samstag, einen Tag nach der erfolgreichen Einzelverfolgung, statt. Vitzthum visierte einen fünften Platz an, war aber mit dem in der letzten Wertung noch eroberten Top-10-Platz zufrieden. «Ich bin sehr konstant gefahren», sagt Vitzthum. Vor dem abschliessenden Punktefahren ist die Konstellation für ihn ungünstig gewesen: «Es war alles sehr nahe beisammen», sagt Vitzthum. Seine Taktik im Punktefahren sei es gewesen, Rundengewinne (bzw. mindestens einen) zu erzielen: «Es lohnt sich nicht, voll auf die Sprints zu gehen, wenn nur zwei Punkte oder ein Punkt herausschaut.» Weil Vitzthum mit den fälligen 20 Punkten für die Runde gleich aufs Podest gekommen wäre, liessen ihn die Favoriten nicht ziehen.Die Favoriten, das waren im Omnium die in der World Tour beschäftigten Ethan Hayter (Grossbritannien), Benjamin Thomas (Frankreich) und Elia Viviani (Italien). Sie sind taktisch mit allen Wassern gewaschen und haben von den schweren Strassenrennen auch das Stehvermögen, um im Final des Omniums noch eine Attacke zu reiten, wie es Sieger Hayter und Thomas in Paris erfolgreich taten.«Die World-Tour-Fahrer haben sicher viel Erfahrung, aber ich kann mir das nötige Rüstzeug auch in anderen Rennen holen», sagt Simon Vitzthum. Er werde aber sicher auch im nächsten Frühling einige Strassenrennen bestreiten, um sich in Form zu bringen.Dabei ordnet er alles dem Erfolg auf der Bahn unter. Mit Omnium und Zeitfahren hat er zwar wieder zwei Disziplinen, die zum Teil verschiedene Qualitäten erfordern: «Beide Disziplinen sind auf der Bahn. Und ich bin überzeugt, dass mich das Training für die Einzelverfolgung auch im Omnium besser macht.» So wolle er im Winter an Kraft zulegen: «Als Biker musste ich immer auch aufs Gewicht achten, auf der Bahn sind Muskeln wichtiger.»Die Karriere als Mountainbiker hat Simon Vitzthum beendet. Allerdings fährt er zum Ausgleich noch hie und da Rennen auf den dicken Pneus. Auch dabei gelangen Vitzthum Siege. Zuerst am Argovia-Cup, dann am Teamwettkampf Gigathlon, wo er mit Gian-Andri und Nando Baumann, Christof Bischof und Claudio Imhof den Gesamtsieg holte. Und kürzlich bewies Vitzthum mit einem achten Platz am stark besetzten Swiss Cup in Muttenz, dass er das Geländefahren nicht verlernt hat.Auf der Bahn, wo die Show auch wichtig ist, mag Vitzthum, gerade nach Corona, die Stimmung: «Am Wochenende war in Paris Full House wie an einem Eishockeymatch.» So soll es, wenn es nach Vitzthum geht, auch der Heim-EM vom kommenden Februar sein. Sechs Bahnradsport-Disziplinen, die Simon Vitzthum bestreitet[caption_left: Die Mannschaftsverfolgung ist das Flaggschiff von Swiss Cycling auf der Bahn. Bild: Frontalvision/Swiss Cycling]Mannschaftsverfolgung
Der Vierer in der Vier-Kilometer-Verfolgung ist das Flaggschiff von Swiss Cycling und die Grundlage für die Olympia-Selektion. Vier Teamkollegen legen gemeinsam eine Vier-Kilometer-Strecke zurück, die Zeit wird beim Vorderrad des drit-ten Fahrers gestoppt. Eine wichtige Aufgabe kommt dabei dem Anfahrer zu: Er muss den schweren Gang möglichst rasch in Schwung bringen, damit die Gruppe Tempo aufnehmen kann. Das Mannschaftsfahren ist sehr trainingsintensiv, weil die Ablösungen zentimetergenau stimmen müssen. Sonst geht es wie dem Schweizer Vierer an der WM, der die Quali um ein paar Zehntel vergab.Einzelverfolgung
Hier müssen vier Kilometer einzeln zurückgelegt werden. Es ist die ehrlichste Disziplin im Radsport, hier zählen nur die Watt, die der Fahrer treten kann sowie die Sitzposition (Aerodynamik). Stundenweltrekordhalter Filippo Ganna ist in dieser Disziplin nahezu unschlagbar. Ein Wettkampf wird in zwei Runden ausgetragen, zunächst werden in einer Qualifikation die vier schnellsten Fahrer ermittelt. Die beiden Bestplatzierten ermitteln im Final den Sieger; die Nächstschnellsten bestreiten den kleinen Final um Platz drei. In dieser Disziplin hat sich Vitzthum in wenigen Monaten um 10 Sekunden verbessert, sein neuer Schweizer Rekord liegt bei 4:07,326.Scratch
Die erste Disziplin des Omniums, das olympisch ist und auch aus allen vier folgenden Disziplinen besteht, ist ein gewöhnliches Velorennen über zehn Kilometer (40 Runden auf einer 250-m-Bahn): Wer die Distanz am schnellsten zurücklegt, ist der Sieger. Anders als beim Strassenrennen gibt es keine Teamtaktik, sodass es reine Sprinter schwer haben. Entscheidend ist meist ein Rundengewinn. Dieser ist für Fahrer, die nicht zu den Favoriten zählen, einfacher zu erzielen: Sie werden von den Sieganwärtern im Omnium eher ziehen gelassen. Die Punktvergabe erfolgt nach Platzierung (40, 38, 36, 34, ..., 8, 6, 4, 2 Punkte).Temporennen
Das Temporennen wurde 2016 als Teil des reformierten Omniums eingeführt, es ist die am wenigsten bekannte Disziplin. Nach einer neutralisierten Startphase (meistens fünf Runden) gibt es in jeder folgenden Runde eine Vergabe von je einem Punkt an den Führenden beim Erreichen der Ziellinie. Zudem gibt
es für einen Rundengewinn 20 Punkte. Bei einem Rundenverlust gegenüber dem Hauptfeld scheidet der Fahrer aus und verliert seine Punkte. Weil es in jeder Runde einen Punkt gibt, ist das Temporennen die schnellste Disziplin. Die Punktevergabe fürs Omnium erfolgt nach demselben Schlüssel wie im Scratch und später in der Ausscheidung.Ausscheidungsfahren
Nach einer neutralisierten Runde und einem fliegenden Start scheidet der letzte Fahrer bei jedem zweiten Erreichen der Ziellinie aus (entscheidend ist die Position des Hinterrads). Die letzten zwei Fahrer ermitteln den Sieger im Sprint. Die Ausscheidung ist die am stärksten von Taktik geprägte Disziplin. Einige Fahrer versuchen ihr Glück, indem sie sich oben auf der Rennbahn das Vorderrad freihalten und jeweils einen Konkurrenten auf diese Weise im Feld «einbauen». Der Schlüssel zum Erfolg ist jedoch meist das Positionsfahren: Wer immer innen an zweiter, dritter Stelle fahren kann, kommt kaum je in Gefahr und spart Kraft. Punktefahren
Das Punktefahren dauert auf einer 250-m-Bahn 100 Runden (25 km). Nach jedem zehnten Umgang werden Punkte an die vier Ersten vergeben (5, 3, 2, 1), im Ziel gibt’s die doppelte Anzahl Punkte. Obschon die Disziplin Punktefahren heisst, schenkt vor allem ein Rundengewinn ein: Wer nach einer Flucht von hinten wieder ins Feld fährt, bekommt 20 Punkte. Weil das Punktefahren im Omnium die vierte Disziplin des Tages ist, entscheidet oft auch das Stehvermögen. Die gewonnenen Punkte werden direkt ins Omnium-Gesamtklassement übertragen. Das hat den Vorteil, dass der Zwischenstand stets allen bekannt ist.