26.12.2019

Dreimal bestohlen, nie im Rheintal

Mit 82 gibt Martha Thurnheer ihre Tätigkeit als Marktfahrerin auf. Auf dem Feld arbeitet sie weiterhin.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Gert BrudererAls 1980 der Gatte starb, erst 47-jährig, war das ein harter Schlag für die sechsfache Mutter. Emil Thurnheers Gemüsebaubetrieb wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und Martha Thurnheer übernahm ihn notgedrungen, bald unterstützt von Sohn Rolf, der sein letztes Lehrjahr im Familienbetrieb beenden konnte. Später stieg auch Peter ein.Nun ist die Aussicht allerdings getrübt. Wie es mit dem in dritter Generation geführten Betrieb dereinst weitergeht, ist offen. Von den neun Enkeln und sieben Enkelinnen Martha Thurnheers verspürt niemand den Drang, den Betrieb einmal fortzuführen.Einer dieser Enkel ist Marcel Adolf, der Präsident der SVP Berneck. Als Kind war er häufig am Markt, denn seine Mutter, Martha Thurnheers älteste Tochter, half regelmässig hinter dem Stand. Marcel Adolf ist Textiltechnologe, ferner gibt es unter den Enkeln und Enkelinnen u. a. einen Polymechaniker, kaufmännisch Ausgebildete, Studierende, einen Bäcker, eine angehende Lehrerin sowie mit Nicole Messmer eine erfolgreiche Sportpistolenschützin – aber niemand hat es mit Gemüse oder Feldern. «Da isch ‘s Truurige», sagt Karin Thurnheer, die Mutter der Schützin, sie lacht jedoch und fügt hinzu: «Wir hoffen noch.» Ein Jahrzehnt ist für die Nachfolgeregelung noch Zeit.Den Marktstand in St. Margrethen betreut künftig niemand mehr aus der Familie. An diesem letzten Samstag des alten Jahres ist zum allerletzten Mal Martha Thurnheer am Markt, danach machen Angestellte den Job. Dass Wehmut mitschwingt, hat mit der Vergangenheit zu tun. Martha Thurnheers sechs Kinder halfen früher alle fleissig mit, mittwochs und samstags, ausserdem war jeder mindestens ein halbes Jahr am Stück im Unternehmen tätig, es ergab sich so. Der Betrieb war nach Vaters Tod ein Gemeinschaftsprojekt, was den Zusammenhalt begründet. Diese Weihnachten waren fast ausnahmslos alle da – man feierte zu fünfundzwanzigst.Den Stand auf demAutodach transportiertSchon Martha Thurnheers Schwiegervater Johannes war ein Gmüesler – allerdings noch mehr ein Händler als ein Produzent. Mit Ross und Wagen war er dreimal wöchentlich auf Tour, begleitet von der Gattin Emma, regelmässig fuhr man in den Thurgau.Emil Thurnheer verlegte sich in zweiter Generation vom Handel auf die Gemüseproduktion und belieferte die Gemüsezentrale in Rebstein. Erst seine Frau Martha fing 1986 mit den Märkten an. In Altstätten konnte sie wunschgemäss teilnehmen, Heerbrugg winkte zunächst einmal ab, es war schon jemand mit Gemüse dort. Nach ein paar Jahren konnte sie jedoch auch hier den Stand aufstellen. Den transportierte sie zu Beginn auf dem Dach ihres Autos, doch mit ihrem 50. Geburtstag wurde es ein wenig komfortabler: Von den Kindern bekam Martha Thurnheer am 29. Mai 1987 ihren ersten Anhänger geschenkt – «ein Anhängerli», wie ihre jüngste Tochter Karin sagt. Schaltafeln vom Bau dienten der Standerweiterung.Ein gutes Jahrzehnt später war alles professioneller geworden. Der Anhänger hatte nun eine Länge von viereinhalb Metern, das ganze Gefährt war elf Meter lang. Die mit Gewichten bediente Waage wurde irgendwann durch eine elektronische ersetzt.Mit der Kasse durchden Wald gestapft«Mini Mueter hät nünt kennt», sagt Karin Thurnheer anerkennend, sogar zum Markt in St. Gallen sei sie mit ihrem grossen Anhänger gefahren, die Mutter fügt, in Gedanken an jene Zeit, kurz und bündig hinzu: «Ui ui ui.» An den Altstätter Markt fuhr sie einmal mit dem grossen Traktor, weil das Auto kaputt war, auch das war recht mutig.Nach besonderen Erlebnissen gefragt, muss Martha Thurnheer nicht gross überlegen. Es gibt viele. Etwa den Tag in den Neunzigerjahren, als übermässig Schnee gefallen war. Von ihrem hoch gelegenen Zuhause in St. Margrethens Windegg stapfte die Marktfahrerin mit einer Kasse durch den Wald zum Eselschwanz, wo Fahrzeug und Gemüse für die Fahrt zum Markt zu holen waren. Oder dann der Tag, als Wind viel Geld fortwehte und man diesem hinterher zu springen hatte. Auch von Diebstahl blieb Martha Thurnheer nicht verschont. In den Neunzigern wurde ihr zweimal die Kasse gestohlen. Einmal waren ungefähr zweitausend Franken drin, das zweite Mal das ganze Wechselgeld. Vom Stand weg wurde auch einmal das Kafikässeli geklaut.All dies passierte in St. Gallen, hier im Rheintal war die Welt in Ordnung. Hier ereignete es sich sogar, dass ihr ein Mitarbeiter des Autobahnstützpunkts Buriet aus der Patsche half, nachdem Martha Thurnheer auf der Autobahn das Benzin ausgegangen war. Zuvorkommend beschaffte der Fremde den nötigen Nachschub.Martha Thurnheer, geborene Jüstrich, ist in Berneck aufgewachsen, als eines von sechs Kindern. In jungen Jahren arbeitete sie in der einstigen Stickerei am Tigelberg, in einem Haushalt in Schiers, dann bei Wild Heerbrugg in verschiedenen Funktionen, zuletzt im Lohnbüro. Der Balgacher Familie Ritz half sie im Haushalt und bei anderem, «mer händ Truubesaft gsotte und gmoschtet bis i alli Nacht», sagt Martha Thurnheer. In dieser Zeit lernte sie Emil, den Aushilfschauffeur kennen, den späteren Gatten. Am 21. Mai 1960 wurde geheiratet.Mit 77 auf dem Marktden Arm gebrochenVor fünf Jahren, gegen Ende eines anstrengenden Markttags mit viel Schnee und Pflutsch, rutschte Martha Thurnheer auf dem Randstein aus – und brach sich den Arm. Vom Altstätter Markt hatte sie sich im Jahr 2006 verabschiedet, vom Markt in St. Gallen 2010. Den Stand in Heerbrugg führt schon seit langem Sohn Rolf, und nun macht Martha Thurnheer auch in ihrer Wohngemeinde Schluss, nach über drei Jahrzehnten.Ihre Lieblingsanekdote handelt von dem Unmut, den einst Migros-Mitarbeiterinnen äusserten, weil der Gemüsestand am St. Margrether Bahnhofplatz sie störte. Ihre Kundin Susi Brülisauer habe gleich für sie Partei ergriffen, sagt Martha Thurnheer, das vergesse sie ihr nie. Sie freut sich nun darauf, dies schwarz auf weiss zu lesen, denn zur Zeitung hat die 82-Jährige einen doppelten besonderen Bezug. Ein Bruder lernte beim «Rheintaler» den Drucker-Beruf, und Martha Thurnheer selbst trug diese Tageszeitung in der Schulzeit täglich zu den Menschen.

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