04.12.2020

Dorfgeschichte greifbar machen

Fast alle Ausstellungen im Ortsmuseum Berneck hat Rainer Sieber gestaltet. Per Ende Jahr zieht er sich zurück.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Das Pendel einer hölzernen Standuhr bewegt sich hin und her. Die Zeiger weisen auf die aktuelle Zeit hin. Rainer Sieber beschäftigt sich nicht allein mit der Gegenwart. «Alle Formen der Geschichte haben mich seit jeher wie ein Magnet angezogen», sagt er. Es gebe keine Zukunft und keine bewältigte Gegenwart ohne die Vergangenheit. Seines Erachtens beschäftigt sich die Gesellschaft zu wenig mit dem, was einst war. «Es fehlt ihr die Action.»Der seit dem Jahr 2012 pensionierte Rainer Sieber wirkte noch als Primarlehrer, als er vor fünfzehn Jahren ein Inserat las. Auf Initiative der Gemeinderätin Margrit Wellinger suchte die Gemeinde geschichtlich Interessierte zwecks Gründung einer Museumskommission. Wellinger wollte eine ortsgeschichtliche Sammlung im «Haus zum Torkel» einrichten. Es gehört der Gemeinde seit den 70er-Jahren, war bis dahin aber nicht als Museum genutzt. «Ich ergriff die Chance, Geschichte sichtbar, erkennbar und greifbar zu machen», sagt Rainer Sieber.Darauf holt er ein Fotobuch hervor. Margrit Wellinger hatte es ihm vor zwei Jahren aus Anlass ihres Abschieds geschenkt. Die Präsidentin der Kommission dokumentiert darin den Werdegang des Ortsmuseums. Als Titel wählte sie ein Zitat von Marcus Martial: «Doppelt lebt, wer auch Vergangenes geniesst.» Es prangt über dem Eingang des Hauses des Weins.Neugier war die AntriebsfederZu jedem einzelnen Bild des Buches kennt Rainer Sieber die Geschichte. Schliesslich war er an jeder der fünfzehn Ausstellungen beteiligt. Genauer gesagt, er entwickelte zu zwölf von ihnen die Ideen, sammelte Exponate und gestaltete die Darstellung im Alleingang. Die dreizehnte Ausstellung ist fast fertig, aber auf nächstes Jahr verschoben.«Ich bin kein Teamplayer», sagt er selbstkritisch. Die Geschichten zu den Exponaten arbeitet von Beginn an Erich Gubelmann auf. «Er ist der Bücherwurm, ich bin der Gestalter», sagt Rainer Sieber über das einzige weitere Gründungsmitglied, das der Kommission nach wie vor angehört. «Wir kennen uns so gut wie Brüder.»Bevor sich die 500 bis 600 Besucher eine Ausstellung anschauen konnten, tauchte Rainer Sieber etwa neun Monate lang in ein Thema dörflicher Vergangenheit ein. Es sollte alles perfekt sein. «Meine Antriebsfeder war die Neugier.» Die eigene sowie die der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Deren leuchtende Augen bezeichnet der Pädagoge als Quittung seines Einsatzes. «In Ausstellungen erlebte ich immer wieder, dass die Vergangenheit einen Moment lang zur Gegenwart wurde.»Rundgänge durchs Dorf lösten Staunen ausRegelmässig verliess Rainer Sieber die Museumsräume und führte die Besucher an Orte, an denen sich Bernecker Geschichte ereignete. Egal ob Jung oder Alt, die Leute staunten darüber, dass Bernecker früher fortschrittliche Technik eingesetzt hatten. Eine motorisierte Jauchepumpe von 1929 warf man nicht fort, sondern setzte sie wieder in Gang. «Die Leute standen in Trauben um die Pumpe herum und inhalierten die Jauche wie Weihrauch.»Rainer Sieber trug dazu bei, «die Arroganz in der Gesellschaft gegenüber der Vergangenheit aufzubrechen» und in Respekt zu wandeln. «Waschmaschinen gab es schon vor 100 Jahren und Kachelöfen in der Jungsteinzeit.» Man schützt nur, was man kennt. Eine geschichtliche Sammlung sei entscheidend für die Entwicklung.Als die Mehrzweckhalle Bünt gebaut wurde, entdeckte Rainer Sieber in der Baugrube in 80 Zentimetern Tiefe eine Brandschicht und stellte sie in Zusammenhang mit dem Dorfbrand im Mai 1848. «Da muss das Haus von Johann Georg Federer gestanden haben», sagt er. Dort hatte das Feuer in der Föhnnacht seinen Ursprung genommen. Auf einer Exkursion mit Schülern staunten sie darüber, dass sie den Brand noch riechen konnten.Ein neuer Duft soll einziehenPer Ende Jahr tritt der Macher zurück. «Nach fünfzehn Ausstellungen reicht es, dass es nach Sieber schmeckt», sagt er. Sein Ziel, das er sich 2005 setzte, hat er erreicht. «Zu 150 Prozent.» Es sei eine fantastische Zeit gewesen und er habe viele seiner Vorstellungen und Träume einbringen können.Dem pensionierten Primarlehrer gingen die Methoden nie aus. Einen Computer setzte er nie ein. «Elektronik ist für mich zu weit vom Menschen weg.» Er verteufelt die multimediale Technik nicht. Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin könne sie einbeziehen. Kopiert werden möchte er nämlich nicht. Die Besucher sollten nach wie vor Gegenstände anfassen dürfen. «Das Internet ist nur zweidimensional. Das Museum aber riecht nach altem Holz.»

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.