03.01.2021

Dorf der Aussichten und Abgründe

Die Ausserrhoder Gemeinde Rehetobel schenkt sich zum 350-Jahr-Jubiläum eine erneuerte Dorfchronik.

Von Marcel Elsener
aktualisiert am 03.11.2022
Paradiesisch ist die Aussicht auf dem Höhenweg über Rehetobel, südwärts auf den Alpstein, nördlich über den Bodensee, der jedoch wie das ganze Land unter 1000 Metern im Nebelmeer liegt. Neidische Blicke gelten den Häusern knapp über der Nebelgrenze, später staunt man über die Luxusautos vor dem Gourmettempel. Doch die an die Hundert, die sich an einem Novembersamstag auf der weitläufigen Krete sonnen, schätzen die Zugänglichkeit dieser Grundstücke, in manch anderem Land wäre hier abgesperrte Oligarchen- oder Superreichenzone. Tags darauf, der Nebel wabert noch höher, fällt Rehetobel erneut auf – mit seinem Resultat zur Konzernverantwortungs­initiative. Wie seine Nachbarn Wald und Trogen gehört es zum halben Dutzend Ostschweizer Ausnahmegemeinden, die zugestimmt haben. Den progressiven Geist, wenn man so will, belegt auch das 2014 angenommene Ausländerstimmrecht.Industrie verloren, aber kein Schlafdorf gewordenRehetobel ist also kein Dorf wie jedes andere. Und doch ein typisches Textildorf, wie es sie in der Ostschweiz und erst recht im Kanton Appenzell Ausserrhoden Dutzende gab. Das Ortsbild mit Stickerhäusern, Sticklokalen und Weberhöckli zeugt bis heute davon. Dass sich die Gemeinde in den letzten 50 Jahren «ein neues Gewand» gegeben hat, ist der Titel einer Dorfchronik, die weit mehr ist als eine gängige Gemeindegeschichte. «An Weitblick mangelt es Rehetobel nicht.» Der erste Satz im Buch bezieht sich auf die Hügelkuppe der Fernsicht, doch er gilt auch jenen weitsichtigen Einheimischen und Zugezogenen, die mit ihrem Engagement bewirkten, dass Rehetobel nach dem Verlust der Industrie nicht zum «Schlafdorf» und «Landschaftsmuseum» verkam. Sondern als lebendiges Dorf überlebt und wieder an Einwohnerschaft gewonnen hat  –  demnächst knackt es die 2000er-Grenze. Zwar konnte das Dorf die wichtigsten Entwicklungen nicht selber steuern, sondern war dem kantonalen, nationalen oder internationalen Geschehen ausgeliefert, so in der Raumplanung, im Strukturwandel nach der Textil- und Ölkrise oder in der Digitalisierung.Doch den Weitblick in der Ortsentwicklung verdankt es Einzelkämpfern, die der Raumplanung auf die Sprünge halfen. Der Lehrer und Gemeinderat Arthur Sturzenegger kämpfte an der Seite des Fotografen und späteren «grünen» Nationalrats Herbert Maeder jahrelang gegen die in den 1970ern geplante Überbauung der Fernsicht. Das brauchte Mut und musste ausgehalten werden, Rekurssprecher Sturzenegger wurde zeitweilig zur Zielscheibe: «Als die Abstimmung vorbei war, behandelten mich viele Leute wieder freundlich, die es zuvor kaum mehr gewagt hatten, mit mir zu reden.»Eigenwillige Köpfe und vielfältige Beizenlandschaft Man muss da, wo man wohnt, etwas bewegen wollen: Diese Haltung kommt in den Porträts und Interviews von Dorfbewohnern zum Ausdruck, die mit ihrem Wirken die Gemeinde lebenswert machen. «Charakterköpfe» wie der sport- und kulturbegeisterte Hansueli Zuberbühler, dem das Dorf etwa sein Velomuseum verdankt, und Emanuel Hörler, der den lokalen Bienen und Schmetterlingen einen Weg bahnte. Oder Vittorio Paganini, exemplarisch für die «Gastarbeiter» aus Italien, die in den Textilfabriken schufteten und notabene den Katholiken zu einer Kirche verhalfen.Immer wieder betonen Zugezogene die Offenheit der Dorfbevölkerung, die bei aller Auseinandersetzung zwischen konservativen Kräften und alternativen Lebensformen die Gemeinde befruchtet – bis hin zu den anthroposophischen Heilpädagoginnen im Kinderheim «Hofbergli» oder dem zeitweiligen Hippie-Beizenkollektiv im «Landhus». Nebst den traditionellen (Musik-)Vereinen und den nicht weniger als vier Lesegesellschaften sorgen die Beizen für Austausch und Identität. «Wenn irgendwo in der Schweiz von Rehetobel die Rede ist, geht es fast immer um die Gastronomie, um das sensationelle Gourmetlokal oder die spezielle Beiz», schreibt Co-Autor Hanspeter Spörri zum Auftakt eines Rundgangs durch neun Gaststätten, vom «Chastenloch» über das «Urwaldhaus» bis zum «Gupf».Die Beizentour im Aufschwung vor dem Coronalockdown ist ein Highlight in einem Gemeindeporträt, das anders als eine klassische Chronik das Dorfleben collagenartig aus mehreren Perspektiven schildert. Dabei stand das aufs 350-Jahr-Jubiläum 2019 geplante Buch auf der Kippe: Der ursprüngliche Verfasser, der Appenzeller Historiker Albert Tanner, musste das Projekt aus gesundheitlichen Gründen an den Basler Historiker Yigit Topkaya übergeben, dem ein Autorenteam beistand (Spörri, Anita Kast, Monika Golay-Boller). Der Mut zum frischen Blick mit auswärtigen Augen hat sich gelohnt, das Buch lässt sich Ur-, Neu- und Heimweh-Rehetoblern sowie solchen, die mit einem Zuzug liebäugeln, vorbehaltlos empfehlen. Ein überregionales Publikum, das Rehetobel nur aus Nebelfluchtgründen kennt, könnte einige bekannte Köpfe vermissen (wie Gupf-Besitzer Migg Eberle, Musiker Paul Giger, Filmer Andreas Baumberger) und auf manche Bilder verzichten.Wären in einem solchen Dorfporträt nebst den topografischen und ökonomischen Schattenseiten etwa auch die schlagzeilenträchtigsten Verbrechen zu erwähnen? Eine spannende Frage, die nur ein Buch aufwerfen kann, das den Weg zu einer modernen Dorfgeschichtsschreibung weist. Hinweis Yiğit Topkaya: Rehetobel. Ein Textildorf im neuen Gewand. Appenzeller Verlag 2020, 180 Seiten. 

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