19.04.2022

Digitalisierung prägte Berufswahl

Die Pandemie forderte Jugendliche auf Lehrstellensuche besonders. Das spürte auch die Berufsberatung Rheintal.

Von Interview: Reto Wälter
aktualisiert am 02.11.2022
Interview: Reto Wälter Mengia Albertin und Martin Hofer von der Berufs- und Laufbahnberatung Rheintal blicken im Interview auf die schwierige Coronazeit zurück. Gestaltet sich die Berufswahl inzwischen wieder wie vor der Pandemie?Martin Hofer: Ja. Allerdings wurde die Digitalisierung durch die Pandemie beschleunigt: Was in dieser Zeit entwickelt wurde, steht den Jugendlichen auch nach Corona im Berufswahlprozess zur Verfügung. Mengia Albertin: Schülerinnen und Schüler der dritten Oberstufe, die noch keine Lehrstelle haben, müssen im Frühling besonders intensiv suchen. Jene in der zweiten Oberstufe schnuppern jetzt oder bemühen sich derzeit um eine Schnupperstelle. Das ist nun wieder möglich. Wie sind die Perspektiven für Jugendliche, die 2022 oder 2023 eine Lehre beginnen möchten?Martin Hofer: Die Zahlen, die gesamtschweizerisch von der ETH erhoben wurden, prognostizieren gute Aussichten, eine Lehrstelle zu finden. Das Angebot ist ähnlich wie 2021. Ganz genau weiss man das aber erst, wenn die effektiven Zahlen publiziert werden. Schulabgängerinnen und -abgänger, die 2022 in eine Lehre starten, waren bei der Suche allerdings benachteiligt, weil sie letztes Jahr mit schwierigeren Bedingungen konfrontiert waren. Das Organisieren von Tages- und Schnupperpraktika wurde durch die Massnahmen also erschwert?Martin Hofer: Ja, aufgrund von Planungsunsicherheiten und auch, weil Schnuppern zwischendurch gar nicht möglich war. Als Firmen dann wieder Schnupperlehren angeboten haben, kam es teilweise zur absurden Situation, dass diese nicht besetzt werden konnten, obwohl es eigentlich Bedarf gab. Die Jugendlichen hatten jedoch aufgegeben, nach einer Schnupperstelle zu suchen. Mengia Albertin: Weil die Jugendlichen nicht schnuppern konnten, blieben viele Fragen offen: Liegt mir diese Arbeit? Gefallen mir das Umfeld und der Arbeitsplatz? Bevorzuge ich eher Teamarbeit oder eigenständiges Arbeiten? Entsprechend hatten die Schülerinnen und Schüler keine Erfolgserlebnisse. Die sind aber wichtig, um über ganze zwei Jahre des Berufswahlprozesses die Motivation hoch zu halten. Welche Eigenschaften waren während der Pandemie besonders gefragt?Martin Hofer: Da alles länger dauerte, war Geduld gefragt, aber auch Durchhaltevermögen und Entschlossenheit, dazu Mut, Aktivität und Zuversicht. Die Jugendlichen mussten Umwege in Kauf nehmen – das erforderte Flexibilität. Mengia Albertin: Ebenfalls gefragt war die Fähigkeit, Hilfe zu suchen und sich durchzufragen. Firmen, Schulen, Eltern und wir, die Berufsberatung, boten in dieser schwierigen Zeit natürlich zusätzlich Hand. Gab es durch die veränderten Bedingungen auch Jugendliche, die sich anders orientiert haben?Mengia Albertin: Einen Plan B zu haben, war wichtiger als sonst, weil sich Plan A vielleicht nicht verwirklichen liess. Interessierte an einer kaufmännischen Lehre beispielsweise mussten umdisponieren, weil es aufgrund von Homeoffice nicht möglich war, zu schnuppern. Martin Hofer: Auch solche, die eine weiterführende Schule besuchen wollten, waren betroffen, weil der Schulbetrieb eingeschränkt war. Es war beispielsweise schwieriger, sich auf Prüfungen vorzubereiten. Manche entschieden sich deshalb für eine Lehre. Manchmal gefiel den Suchenden Plan B aber auch so gut, dass sie ganz auf ihn setzten.Mengia Albertin: Die Zahlen haben sich 2021 gegenüber den Vorjahren aber nicht entscheidend verändert. 78 Prozent wählten eine Grundausbildung, zwölf Prozent weiterführende Schulen und sieben Prozent nutzten ein Brückenangebot. Es wurden nicht mehr Zwischenlösungen gewählt als in anderen Jahren. Konnten die Jugendlichen mit der veränderten Situation umgehen? Mengia Albertin: Vielen Jugendlichen fiel es schwer, eine Absage nicht auf die eigene Person zu beziehen, weil der Austausch zu anderen eingeschränkt war. Dies in einem Alter, in dem man beginnt, eine eigene Identität zu entwickeln und Selbstzweifel an der Tagesordnung sind. Martin Hofer: Die Jugendlichen konnten keine Vergleiche ziehen, denn sie waren das erste Mal auf Stellensuche. Viele nahmen die sich verändernden Situationen aber stoisch hin. Es schien ein kleiner Trost zu sein, dass es für alle Beteiligten eine schwierige Zeit war. Wie erlebten Sie die Eltern?Martin Hofer: Auch sie akzeptierten die Bedingungen mehr oder weniger klaglos. Oft wohl auch, weil sie das Ganze nicht dramatisieren wollten.Mengia Albertin: Sowieso brachte man den Jugendlichen von allen Seiten Verständnis entgegen und reagierte einfühlsam. Für die Firmen war es übrigens auch nicht leicht, geeignete Lernende zu finden.Martin Hofer: Es gab Jugendliche, die sahen in der Pandemie auch positive Aspekte, weil sie nicht mehr so vielen Einflüssen und Ablenkungen ausgesetzt waren. Bei manchen verbesserten sich sogar die Schulnoten. Verzichteten viele Arbeitgebende darauf, Lehrstellen anzubieten?Martin Hofer: In gewissen Branchen ging das Ausbildungsangebot zwangsläufig zurück. Im kontaktorientierten Dienstleistungsbereich, etwa im medizinischen Bereich, dem Detailhandel und der Gastronomie. Teilweise herrschten existenzielle Unsicherheiten. Man wusste nicht, wie es weiter gehen würde. Ist ein Geschäft nicht geöffnet, kann man nicht schnuppern. Andere Branchen waren weniger betroffen, etwa der handwerkliche Sektor, da gab es weniger Rückgänge. Gab es Veränderungen bei der Lehrstellensuche, etwa eine Verlagerung ins Netz?Martin Hofer: Die Online-Lehrstellenbörse wurde ins Leben gerufen. Der Suchende gibt seine Daten ein, meldet sich für Berufe an und bekommt dann Vorschläge für ein Treffen – online oder auch live. Die Börse funktioniert ähnlich wie eine Begegnungsplattform. Ausserdem sind Veranstaltungsdaten eingetragen. Wir und die Schulen ermutigten die Jugendlichen, dieses zusätzliche Angebot zu nutzen. Dann sind auch die Arbeit-gebenden stärker im Internet vertreten?Mengia Albertin: Einige Firmen boten die Möglichkeit an, online zu schnuppern. Sie nahmen die Jugendlichen beispielsweise auf einen virtuellen Rundgang mit. Auch Informationsveranstaltungen für Zwischenlösungen wurden online vorgestellt. Welche Erkenntnisse gewannen Sie aus dieser Zeit?Martin Hofer: Es hat eindrücklich gezeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit aller Beteiligten ist. Aber auch, dass sich alle anstrengten und ihr Bestes gegeben haben. Mengia Albertin: Klar wurde einmal mehr: Jugendliche sind in der Berufswahl auf ein funktionierendes Umfeld angewiesen. Dazu gehören die Eltern, die Schule, die Arbeitgeber, die Berufs- und Laufbahnberatung sowie Verwandte und Bekannte. Was können Sie aus dieser schwierigen Phase den Jugendlichen weitergeben, die jetzt im Berufsfindungsprozess sind?Martin Hofer: Dass es sich lohnt, Durchhaltevermögen zu beweisen, aber auch Geduld zu bewahren, wenn etwas nicht sofort klappt. Dass es wichtig ist, nachzufragen und zu kommunizieren. Mengia Albertin: Aber auch, dass es manchmal wichtig ist, eine Pause einzulegen und Energie zu tanken. Was bleibt aus der Coronazeit zurück?Martin Hofer: Die Online-Lehrstellenbörse ist sicher ein gutes zusätzliches Tool. Beratungen über Skype werden weniger nachgefragt, man bevorzugt es, sich persönlich zu treffen. Sicher ist, dass nicht alles ins Internet verlagert werden kann.Mengia Albertin: Informationen zum Gesichtsausdruck, zum Verhalten und zur Körpersprache fehlen, wenn der Kontakt online stattfindet. Nun können wir glücklicherweise wieder mit nonverbalen Botschaften arbeiten.

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