25.10.2018

Die Unterschriftensammlerin

Sie sagt, was sie denkt. Was andere über sie denken, kümmert sie nicht. An Versammlungen hält sie sich schon aus Prinzip nicht zurück, ob im eigenen Wohnort oder irgendwo sonst im Land.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Gert BrudererAn der Churfirstentagung der SVP vor zehn Jahren erhob sich Carmen Bruss, um die Einwanderung zu beklagen und deren Bekämpfung zu fordern. Selbst Christoph Blocher bekam von der Rheintalerin kritische Worte zu hören, weil er das Referendum gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit in Richtung Osten nicht unterstützte.Derartige Auftritte hatten zur Folge, dass Carmen Bruss – obschon, wie sie selbst sagt, politisch «ein Nobody» – parteiintern dazugehört. Bei einem Fest, das Toni Brunner wenig später gab, habe Blocher sie nicht nur ermuntert, direkt neben ihm Platz zu nehmen, er habe ihr auch das Du angeboten, sagt Carmen Bruss.Als die Delegierte der SVP Rheintal im Juni des letzten Jahres bei Basel eine Parteiveranstaltung zur Personenfreizügigkeit besuchte, wollte sie «endlich Klartext reden» und «vorwärts machen». Sie sprach sich dafür aus, das Freizügigkeitsabkommen zu kündigen, wofür es Beifall gab. Die Basler Zeitung schrieb: «Sie war die Stimme der ‹Jetzt langets›-Fraktion.» Sie selbst sagt, manche Themen blieben jahrelang an einem kleben.Permanent «am Wurschtle»Permanent ist sie politisch irgendwie «am Wurschtle», zurzeit gegen den UN-Migrationspakt, für die Selbstbestimmungsinitiative und für den steuerlichen Vollabzug der Krankenkassenprämien. Als Frau ohne politisches Amt habe sie zwar nur bescheidene Mittel. Die allerdings nutzt sie mit Inbrunst.Wo immer sie auftaucht, hat sie irgendwas zum Unterschreiben in der Tasche.Besonders für Petitionen (aktuell gegen den Migrationspakt) hat sie schon Tausende Unterschriften gesammelt, gegen das Littering oder für rechtliche Mittel, die es dem Staat erlauben, sich gegen unangepasste Ausländer wie den bekannt gewordenen «bockigen Moslem» durchzusetzen.«Ich bin keine Rassistin», sagt Carmen Bruss, aber «kriminelle, renitente und arbeitsscheue Asylbewerber» hätten bei uns keinen Platz. Für diese Aussage habe Facebook sie für einen Monat ausgeschlossen, kürzlich erst, ihr sei das unverständlich. Schliesslich sei es auch im Interesse gut integrierter Ausländer, wenn die Schweiz die Spreu vom Weizen trenne, meint sie sinngemäss.Webseite als neues KampfmittelAuf Facebook bringt Carmen Bruss täglich zwei bis vier Posts unter. Sie nutzt alle verfügbaren Mittel, um Politik zu machen, und hat jetzt sogar eine eigene Webseite. Lukas Graf, ein Jung-SVPler aus Tübach, hat sie gestaltet, seit gut drei Monaten ist patriotenschweiz.ch aufgeschaltet.In dieser kurzen Zeit haben fast 4000 Interessierte die Webseite besucht. Zu finden sind die Themen, die der Diepoldsauerin am Herzen liegen, wobei das Unterschreiben von Petitionen künftig auch online möglich sein soll.Carmen Bruss sagt, eine Petition verstehe sie nicht als Bittschrift, sondern als Volksumfrage, der Definition des Wortes zum Trotz. Wer einen Vorstoss unterstützen wolle, könne das mit seiner Unterschrift unkompliziert tun, ohne dass sogleich die ganze Abstimmungsmaschinerie in Gang gesetzt werde. Allerdings störe es sie, wenn Politiker eine Petition abschätzig behandelten, indem sie sich die Unverbindlichkeit zunutze machten und sich vor der Auseinandersetzung mit dem Thema drückten.Pferdeliebhaberin von klein aufDer Linie der SVP fühlt Carmen Bruss sich nicht verpflichtet. So hat sie beiden Agrarinitiativen zugestimmt, und Tiertransporte durch Europa sind ihr wie dem Umweltschutzaktivisten Franz Weber ein Gräuel. Schon vor fünfeinhalb Jahrzehnten, im Kinderwagen, brach Begeisterung aus, wenn ein Pferd in Sichtweite war. Während andere mit achtzehn die Autoprüfung machten, kaufte Carmen Bruss in diesem Alter ihr erstes Pferd.Wer Carmen Bruss von früher reden hört, vermutet eine schwere Kindheit. Darauf angesprochen, überlegt sie eine Weile – und stimmt zu. Man musste unten durch, auch was das Geld betrifft. Sie, die so gern geritten wäre, durfte ungefähr mit zehn einmal ins Reitsportzentrum nach Altstätten, die Mutter gab ihr das Geld für die Zugfahrt – aber nicht, damit sie einmal reiten konnte, sondern um Gelegenheit zu haben, einmal zuzuschauen.Als junge Frau war Carmen Bruss in Rorschach wohnhaft, fürs Pferd hatte sie in Rheineck einen Platz gefunden.Schliesslich war ein neuer Stall zu suchen. Carmen Bruss gelangte so ein erstes Mal nach Diepoldsau, geriet sogleich ins Schwärmen über dieses Dorf, lernte den berühmt gewordenen Autor Paul Gasser kennen, der Pferde hatte und bei dem ihr Island-Pony einen Platz fand. Später zogen Pferd und Reiterin nach Romanshorn; hier lernte Carmen Bruss den Gatten kennen.Sohn Sven (26, Betriebsökonom, Kassier bei der SVP Widnau) war vierjährig, Sohn Bryan (23, auf der Gemeindeverwaltung Diepoldsau) war eins, als die junge Familie dorthin zog, wo der Blick vom Rheindamm auf die Berge, auf den Säntis, Carmen Bruss das Herz erwärmt.Seit 13 Jahren politisch tätigErst vor 13 Jahren stürzte sich die Mutter ins Politische. An der Bürgerversammlung erhob sie sich, um einen Einbürgerungsantrag so zu kommentieren: «Entweder die ganze Familie – oder keiner.» Umgehend fragte die SVP, ob sie nicht bei ihr mitmachen wolle. Also kandidierte Carmen Bruss schon bald für den Gemeinderat, ihr Name stand seither auch dreimal auf der SVP-Kantonsratskandidatenliste. Carmen Bruss wurde zwar nie in ein Amt gewählt, doch sie benützt ihr rasch gewobenes und heute enges Netzwerk, das es ihr erlaubt, zusammen mit Politikern an einem Strick zu ziehen, ihnen notfalls einen Schubs zu geben, Neues anzuregen. Mit dem ehemaligen Kantonsrat Dieter Spinner zog sie gegen Littering zu Felde, Lukas Reimann half, die Durchschlagskraft des Staates gegen Renitenz zu stärken.Heute spricht die gelernte SBB-Betriebssekretärin, die in jungen Jahren als Revisorin im internationalen Güterverkehr tätig war, von der «zunehmenden finanziellen Belastung» des unteren Mittelstandes, von den «stagnierenden Löhnen» und von einer «gerechten AHV». Wer ein Leben lang gearbeitet habe, sagt Carmen Bruss, sollte die volle Rente bekommen, unabhängig vom Lohn.Beharrlicher Kampf für eigene ÜberzeugungSie habe sich auch schon gefragt, weshalb sie all das tue. Ehrenamtlich unterwegs sein, reden, Unterschriften sammeln, Leserbriefe schreiben, Meinungen verbreiten – und jetzt auch noch Zeit in eine Online-Plattform investieren.Es ist der beharrliche Kampf für die eigene Überzeugung, die Ereiferung erzeugt, sobald etwa der Migrationspakt das Thema ist, also das Vorhaben, «Wirtschaftsmigranten echten Flüchtlingen gleichzustellen».«Manche Sachen stecken einfach in dir drin», sagt Carmen Bruss und denkt dabei auch an die Meinungen, die mit der SVP nicht kompatibel sind. Sie habe auch schon den Parteiaustritt erwogen, sagt sie, doch dann habe sie gedacht, es gebe sicher noch den einen oder anderen, der sich noch überzeugen lasse. Unterm Strich hat die Partei, in der sie sich bewegt, aus ihrer Sicht ein klares Plus. Denn nur die SVP sei immer klar gegen den EU-Beitritt gewesen, sagt Carmen Bruss, und dieser einstige Grund, der Partei beizutreten, ist auch der triftigste Grund für die Treue geblieben.

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