18.10.2020

Die Speed-Queen braucht Vertrauen in die Langsamkeit

Titelverteidigerin Jolanda Neff stieg an der EM am Monte Tamaro entkräftet aus: «Ich merkte früh, dass es nicht geht.»

Von Yves Solenthaler, Rivera
aktualisiert am 03.11.2022
Am Start bog Jolanda Neff als Erste in den Wald ein, aber schon nach dem Aufstieg lag sie einige Ränge und Sekunden zurück. Der Rückstand wurde grösser und immer mehr Fahrerinnen schoben sich an ihr vorbei. Schon nach einer Runde war klar, dass Neff zu den Geschlagenen des Tages gehört. In der dritten Runde schaffte die 27-jährige Thalerin einen kleinen Stutz nur noch unter grosser Anstrengung, wenig später gab Neff das Rennen auf.«Ich hatte heute nicht die Energie, die man für so ein Rennen braucht», gab die entthronte Titelverteidigerin zu Protokoll. Ihren Titel erbt die um ein Jahr ältere Pauline Ferrand-Prévot, die von A bis Z dominierte. Die Französin ist klar die Stärkste der nur vierwöchigen internationalen Saison: Sie fuhr in allen sechs Rennen (inklusive Short Race) aufs Podest und gewann die drei letzten Wettkämpfe. Hinter ihr landete die Niederländerin Anne Terpstra auf dem zweiten Platz. Spannend war nur das Rennen um die Bronzemedaille. Hier hatte die 23-jährige Zürcherin Sina Frei  wie vor einer Woche an der WM das Nachsehen: Die beste Schweizerin wurde Fünfte hinter Yana Belomoina (Ukraine) und der jungen Britin Evie Richards.Das WM-Ergebnis erhält im Nachhinein mehr WertJolanda Neffs positive Reaktion auf den sechsten Rang an den Weltmeisterschaften erschien vielen unverständlich. Ihre Aussagen nach den Europameisterschaften verleihen auch den Worten von vor einer Woche mehr Sinn. Sie sagt nämlich, dass sie nach ihrer schweren Verletzung noch nicht ganz gesund ist und vor allem: «Das hatte ich schon vorher gewusst.» Das ist zwar neu in dieser Deutlichkeit, aber nicht erstaunlich: Nach einem schweren Trainingssturz erlitt Neff kurz vor Weihnachten einen Milzriss, innere Blutungen, einen Rippenbruch und die Lunge kollabierte.Jolanda Neff braucht Zeit, um den Anschluss zu schaffen in einer Sportart, die sehr viel Kondition und zudem Explosivität erfordert. Am Vorabend der EM blickte sie hoffnungsvoll, aber realistisch («um den Sieg kann ich wohl nicht mitreden») aufs Rennen voraus. Dabei stimmte sie bereits nachdenkliche Töne an: «Gemäss den Ärzten benötigt die Milz zwei Jahre, um wieder voll funktionsfähig zu sein.» Die eingeschränkte Wirkung des Organs, das fürs Immunsystem wichtig ist, hat Neff nach ihrem Infekt zu Beginn des Weltcups in Nove Mesto bereits erfahren: «Jedenfalls wurde ich noch nie nach einem Infekt so langsam wieder gesund.»Ihre Technik befähigt Neff weiter zu grossen Siegen Neff wurde 2020 Schweizer Meisterin, aber die internationale Saison, die eigentlich nur ein Rennblock war, ist ihr misslungen. Die Konstellation war ungünstig: Der Horrorsturz vom Dezember hallt nach, der Infekt raubt die Kräfte, die wegen des dichten Rennkalenders in der Kürze nicht zurückkommen.Ob Neff schon im olympischen Jahr 2021, wenn es denn olympisch wird, in Höchstform kommt, wird sich weisen. Die nötige fahrerische Klasse dazu hat sie allemal: Selbst in den letzten Wochen war sie in einzelnen technischen Abschnitten überlegen. Deshalb ist sie die schnellste Abfahrerin, also die Speed-Queen der Cross-Country-Mountainbikerinnen.Die schnellste Bikerin muss akzeptieren, dass das Tempo auf dem Weg zurück an die Spitze langsam sein kann.

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