16.03.2021

Die Opfer trifft keine Schuld

Eine Beraterin bei der Opferhilfe St.Gallen erklärt, wieso der «Frauenratgeber» der Kantonspolizei problematisch ist.

Von Natascha Arsić
aktualisiert am 03.11.2022
Viele Frauen kennen die Situation leider nur allzu gut: Man läuft abends nach Hause und merkt, dass da jemand hinter einem ist. Immer wieder schaut man über die Schulter und fragt sich: Ist die Person näher gekommen? Nimmt sie bewusst dieselbe Abzweigung? Man umklammert die Schlüssel, um sich im Notfall wehren zu können und hofft, sicher daheim anzukommen.«Treten Sie selbstbewusst auf», rät die Kantonspolizei St.Gallen. «Frauen, die Selbstbewusstsein ausstrahlen, werden weniger belästigt als verschreckte Frauen», heisst es unter anderem in einem Kapo-Ratgeber aus dem Jahr 2019. Muss Frau also bloss breitschultrig hinstehen, und dann passiert ihr nichts? «Das stimmt nicht», sagt Monica Reinhart, Sozialarbeiterin FH und Beraterin bei der Opferhilfe der Kantone St.Gallen und beider Appenzell. Zu glauben, wenn man sich «bloss richtig verhält», passiert einem nichts, gebe ein falsches Gefühl von vermeintlicher Sicherheit. «Man kann sexualisierte Gewalt nicht durch sein Verhalten verhindern.»Fokus auf Opfer statt TäterDie Polizei hat den Ratgeber nach einem Shitstorm in den sozialen Medien vom Netz genommen und sich entschuldigt. Sie hält fest, dass der Ratgeber nicht mehr den heutigen Anforderungen an eine ausgewogene Formulierung mit Täter- und Opfersicht entspricht.Dieser Meinung ist auch Monica Reinhart. «Mit einem solchen Ratgeber gibt man die Verantwortung der Frau ab. Dies ist zu verkürzt gedacht.» Wenn die Polizei diese Botschaften aussendet, löse das bei Betroffenen das Gefühl aus, sie könnten sich nicht an die Polizei wenden, weil sie für das Widerfahrene selbst verantwortlich seien.«Man fokussiert sich zu stark auf das Verhalten von möglichen Opfern, anstatt zu schauen, wo umfassende Gewaltprävention nötig ist.»Laut einer Umfrage von Amnesty International aus dem Jahr 2019 melden nur zehn Prozent der Frauen einen sexuellen Übergriff, acht Prozent erstatten schliesslich Strafanzeige. Den Grund für das Schweigen sieht Reinhart im Mythos, dass Frauen eine Mitschuld tragen.Mit Bildung gegen Gewalt«In unseren Beratungen haben wir oft Frauen, die sich zum Beispiel fragen, ob sie etwas Falsches anhatten. Dabei können sich die meisten bei einem Übergriff gar nicht wehren, weil sie in eine Art Schockstarre fallen.» Deshalb sei es wichtig, kein «Victim-Blaming» zu betreiben. «Stattdessen ist mehr Aufklärungsarbeit nötig, und das bereits im Kindergarten und der Primarschule», sagt Reinhart. Der Fokus müsse auf dem Thema «wie kann man Gewalt durch Bildung verhindern» liegen.Den Kindern soll in der Schule beigebracht werden, dass Gewalt weder eine Lö-sung ist noch toleriert wird, und gleichzeitig sollten alternative Bewältigungsstrategien für Frust aufgezeigt werden.Dass Frauen öfter Opfer von sexualisierter Gewalt sind als Männer, liegt am patriarchalen Geschlechterverhältnis. «Vielfach geht es gar nicht um die Sexualität, sondern um Machtausübung und Bedürfnisbefriedigung», so Reinhart. Und so lange an diesen Strukturen nicht gerüttelt wird und Vergewaltigungsmythen gesamtgesellschaftlich zementiert werden, werden Frauen auf dem Nachhauseweg die Schlüssel umklammern und sich fragen, ob sie einen Minirock oder doch lieber die Jeans anziehen sollen.

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