07.06.2021

Die neugierige, wache Sprachspielerin

Am Donnerstag erhält die Diepoldsauer Geschichtenerzählerin Berta Thurnherr einen Anerkennungspreis der St. Gallischen Kulturstiftung.

Von Martin Preisser
aktualisiert am 03.11.2022
Mit «Lüübi Grüass» zeichnet Berta Thurnherr-Spirig ihre Mails, im Tippilzouar (Diepoldsauer) Dialekt. «Mundart verrät die Herkunft, sie ist grosser Teil unserer Identität und Persönlichkeit», sagt die Dialektforscherin. Lebendig, liebenswürdig und offen ist sie im Gespräch. Ihr Dialekt hat Wärme, wirkt musikalisch.  Gerne hätte Berta Thurnherr Sprachen studiert. Das lag damals aber nicht drin. Sie absolvierte also eine KV-Lehre, in St. Margrethen. Wenigstens mit viel Französisch, aber mit dem Verbot, am Telefon ihren Diepoldsauer Dialekt zu sprechen. «Lange wurden die Rheintaler wegen ihrer Sprache ausgelacht. Das ist schlimm.» Berta Thurnherr sieht die Auszeichnung durch die St. Gallische Kulturstiftung daher jetzt auch als Ehre für alle Rheintaler Mundarten. Auch Bertolt Brecht auf DiepoldsauerischNeben Französisch spricht sie heute auch Italienisch und Spanisch, das sie erst mit sechzig gelernt hat. Die Mundart der Rheininsel, als die Diepoldsau auch bezeichnet wird, ist zur Leidenschaft ihres Lebens geworden. Berta Thurnherr hat Brecht in ihren Dialekt übertragen und für Kindertheater Mozarts «Zauberflöte» in Mundart eingerichtet. Es gibt ein Vaterunser auf Diepoldsauerisch, das in eine Anthologie von Rainer Stöckli mit 150 Versionen dieses Gebets eingeflossen ist. Ihre Leidenschaft für die eigene Sprache entstand, als sie mit ihrer Schwester Maria in den 1980er-Jahren Geschichten alter Menschen aus der Region gesammelt hat. 40 Tonbänder sind entstanden. Geschichten über Grenzen, Krieg und Flüchtlinge zwischen Vorarlberg und Diepoldsau. Berta Thurnherr hat für diese Erinnerungen eine Transkription entwickelt. Die Tonbänder liegen als immaterielles Kulturgut heute im Phonogrammarchiv der Universität Zürich. Die Angst, dass die eigene Sprache verloren gehe, hat die beiden Schwestern angetrieben, den Dialekt festzuhalten. «Sprache ist lebendig, ist immer im Fluss», sagt Berta Thurnherr. «Das heutige Diepoldsauerische ist nicht mehr das von vor dreissig oder vierzig Jahren.» Auf Dialektkongressen ist Berta Thurnherr eine gerne gesehene und gehörte Fachfrau. Sie hat an den Solothurner Literaturtagen gelesen oder mit dem Vorarlberger Theatermacher Tobias Fend Stücke in Dialekt entwickelt, aber auch moderne Lyrik geschrieben und sogar einen Kurzkrimi und einen Rap. Die heute 75-Jährige hat mit 45 Jahren noch einen neuen Beruf erlernt, den der Kindergärtnerin. «Eine gute Entscheidung», sagt Berta Thurnherr.Die eigene Mundart habe sie auch für eigene Wortspielereien und Klangexperimente sensibilisiert. «Berta Thurnherr hat in den Sprachwurzeln ihre eigenen Lebensressourcen für sich entdeckt», schreibt Sabine Arlitt in einem Text anlässlich der Verleihung des Rheintaler Kulturpreises, des «Goldiga Törgga» vor drei Jahren. Der Tippilzouar Dialekt sei wie jeder Dialekt schön. Seine Sprache sei klangreich und von Aussenstehenden überhaupt nicht erlernbar, sagt Berta Thurnherr und erzählt von den vielen alt- und mittelhochdeutschen Elementen aus der Zeit von 750 bis 1350, die in dieser Diepoldsauer Sprache zu finden seien. [caption_left: Im November 2018 erhielt Berta Thurnherr (links) den Preis der Rheintaler Kulturstiftung, den «Goldiga Törgga». Hier zu sehen während der Preisverleihung mit der Präsidentin der Rheintaler Kulturstiftung, Christa Köppel. (Bild: acp)]Verwurzelt und gleichzeitig weltoffenZentrum ihres Lebens ist ihr Garten rund um ein ganz frei stehendes und stets offenes Haus nahe beim Alten Rhein und der Grenze zu Österreich. Als junges Paar haben Berta Thurnherr und ihr Mann das Haus gebaut. Die beiden haben drei Töchter und sechs Grosskinder. Berta Thurnherr wirkt verwurzelt und gleichzeitig weltoffen, heimatverbunden und frei denkend. Dialekte gehörten bewahrt, aber nicht für populistische, volkstümelnde Zwecke missbraucht, sagt sie deutlich. Heute ist sie eine auch bei der jüngeren Generation gefragte Geschichtenerzählerin und Wortspielerin. «Sie kommt an, gerade weil sie bei sich angekommen ist», so beschreibt es Sabine Arlitt treffend.  Den grossen Erfolg, den sie mit Sprache und Dialekt seit einigen Jahren erlebt, hat sie nicht gesucht: «Das ist alles einfach auf mich zugekommen.» Dass ihre Dialektarbeit dereinst solche Aufmerksamkeit erhalten würde, damit habe sie nie gerechnet: «Was meine Leidenschaft für Sprache angeht, sind Wünsche in Erfüllung gegangen, ohne dass ich gewagt hätte, mir je in diese Richtung etwas zu wünschen.»  Hinweis Preisverleihung: Do, 10. 6., 19 Uhr, Eventhalle Rorschach (Industriestr. 36c); Anmeldung obligatorisch unter: www.kulturstiftung.sg/anmeldung.

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