08.01.2021

Die letzte Ölung war ein Irrtum

Als Jugendliche hatte Anna Kühnis-Götti einen geplatzten Blinddarm, nun kann sie ihren 100. Geburtstag feiern.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Am Telefon klingt die gelernte Schneiderin beschwingt. Geistig «besser zwäg als körperlich», lebt sie im Altstätter Haus Viva von heute auf morgen, «ohne weitläufige Gedanken», gelassen und mit dem Humor, den sie schon immer hatte. Ein alter Kalenderspruch scheint zu stimmen: Im Leben sind die ersten hundert Jahre die schwersten. Gebrechen und Beschwerden, die unweigerlich kamen, «cha ma nöd wegblose», bemerkt Anna Kühnis, deren Lebensbilanz sie in zwei Sätzen so formuliert: «Es ist guet usecho. Mit em Lebe bin i würkli zfriede.»Tragisch war für die vierfache Mutter der überraschende Tod ihres jüngeren Sohnes Hansruedi vor sechzehn Jahren und ihres schwer erkrankten Ehemannes Ruedi mit 89. Doch Freud und Leid lägen halt nah beisammen, das gehe auch anderen so. Die Menschen, die ihr nahe sind, mit ab und zu aufkeimender Betrübnis zu belasten, liegt ihr fern.Nach dem Tod des Gatten lebte die in einer Bauernfamilie in Altstätten aufgewachsene Anna Kühnis drei Jahre allein im Oberrieter Eigenheim, bevor sie 93-jährig ins Haus Viva zog, «es war der richtige Entscheid», sie hat es «gut und recht». Ein dritter Corona-Test in dieser Woche erbrachte wieder (auch für alle anderen im Haus) ein negatives Ergebnis. «Mer händ Freud gha», sagt die Hundertjährige und sieht entspannt ihrem Geburtstag entgegen, an dem sie ein feines Geburtstagsmenü serviert bekommt. Sie mag fast alles, sowieso Gemüse, und eine gute Suppe ist ihr «mängmol fascht s’liebscht».«Ehr mönd nöd bröle, i sterbe jo gern»Das frühere Turnvereinsmitglied hat einen gesunden Appetit, kann gut schlafen, benötigt geringfügige Pflege und ist auch mit hundert mobil, allerdings hat sie «wie fast alle» in ihrer Umgebung einen Rollator. Bevor Corona kam, spazierte sie täglich. Nun, da sie die Zeit zwangsläufig in ihrem Zimmer verbringt, ist sie froh, Freude an geistiger Nahrung zu haben. Sie besitzt ein Tablet, liest Bücher und weiss über das regionale Geschehen seit eh und je dank der «Rheintalischen Volkszeitung» Bescheid. Über Corona denkt sie nicht weiter nach. Sie sagt, sie mache einfach, was verlangt sei, «basta».Als Anna Kühnis 13 war, hatte es ganz so ausgesehen, als würde ihr Leben frühzeitig enden. Wegen eines geplatzten Blinddarms war sie schwer erkrankt, sie verbrachte zehn Wochen im Spital. Das Penicillin war noch nicht erfunden, Entzündungen waren schwer behandelbar.Die Ärzte und der Pfarrer hatten Anna Kühnis bereits auf den Tod vorbereitet, auch die letzte Ölung hatte sie bekommen. Zu den Eltern, die sie im Spital besuchten, sagte sie «ehr mönd nöd bröle», sie sterbe ja gern. Das sagte sie wegen des «unsäglichen Durstes», sie habe ja nichts zu trinken und nichts zu essen bekommen und deswegen einmal sogar aus der Blumenvase getrunken.80-jährig mit dem Sohn nach Israel gereistAber alle hatten sich getäuscht, auch die Prognose, dass sie wohl keine Kinder bekommen werde, erwies sich als falsch. Ihr älterer Sohn, der in Basel lebt, ist heute 70, auch die beiden Töchter sind wohlauf, und den familiären Zusammenhalt erlebt Anna Kühnis als ausgesprochen schön. Sie hat viele Enkelinnen und Enkel, Urenkelinnen und Urenkel, mit denen auf übliche Weise gemeinsam zu feiern wegen Corona leider nicht möglich ist.Wichtig war Anna Kühnis und ihrem Mann vor allem, dass die Kinder sorgenfrei aufwachsen und ihre eigene schulische, berufliche und familiäre Vorstellung verwirklichen konnten. Ferien und Reisen leistete man sich erst, nachdem die Kinder ihren Weg gefunden hatten. Anna Kühnis bevorzugte den Norden, reiste aber auch in die USA und – 80-jährig – mit dem Sohn nach Israel.Über fünfzig Jahre hat Anna Kühnis mit den gleichen Kolleginnen regelmässig gejasst. Mit dem Einsatz wurde jährlich eine gemeinsame Reise finanziert, einmal verbrachte man einige Tage in Spanien. Mit einer dieser Frauen fuhr sie mit dem Car nach Norwegen, Schweden und Finnland, und sogar bis hoch zum Nordpol führte diese ausgedehnte Reise.Das Glück des hohen Alters hat jedoch den hohen Preis, dass der Kollegen- oder Kolleginnenkreis sich zusehends verkleinert; von den Jasskolleginnen lebt keine mehr.Ein Höhepunkt der besonderen ArtAnna Kühnis selbst war kaum mehr krank, nachdem sie den geplatzten Blinddarm und die Folgen überstanden hatte. Ab und zu eine Erkältung, ja, und manchmal eine Grippe habe sie gehabt, aber andere hätten das auch.Sie dachte immer, hundert werde sie bestimmt nicht und das wolle sie ja auch nicht werden. Und nun wird der 100. Geburtstag zu einem Höhepunkt der speziellen Art. Nach längerer Zeit zwangsweiser Abschottung freut sich Anna Kühnis sehr darauf, geliebte Menschen zu sehen, im kleinen familiären Kreis. Bei Schwiegersohn Heinz Gebert feiert sie mit ihren Töchtern und dem Sohn.

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