24.07.2022

Die Hitze ist nicht das grösste Problem

Den Fischen im Rheintal geht es schlecht: Ihr Bestand schwindet dramatisch, die Hälfte der Fischarten ist innert 30 Jahren verschwunden.

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 02.11.2022
Hinter dem Schulhaus Stäpfli in Berneck fliesst der Kübach in einem eingemauerten Bett, die Jahreszahl des Baus ist in Stein gemeisselt: 1917. «So würde man heute nicht mehr bauen», sagt Fridolin Scherrer, Gewässerwart des Fischereivereins Mittelrheintal. Das Wasser erwärmt sich im Steinbett, was für aquatisches Leben immer schlecht ist: «Je mehr Wärme, desto weniger Sauerstoff», sagt Scherrer. Dazu kommt fehlende Beschattung: Parallel zum einen Ufer verläuft die Strasse, beim anderen ragen die Sträucher kaum über den Rand.Ein paar Meter weiter unten liegt der Schulhausweiher. Hier misst Scherrer zurzeit regelmässig am Abend die Temperatur. Jetzt seien es ungefähr 24 Grad Celsius, das sei noch akzeptabel. Hier leben viele Weissfische, die viel aushalten können. Aber auch eine 60 Zentimeter grosse Forelle hält sich dort im Kübach auf. «Am Abend kann man sie manchmal sehen», freut sich Scherrer. Sie ist empfindlicher als die kleinen Fische. «Bei 26 Grad wird’s kritisch, aber vermutlich würde sie hier noch Rückzugsplätze finden», sagt Scherrer. Der Ausgang ist für sie allerdings verschlossen: Das Rinnsal, das nach dem Weiher fliesst, bietet nur kleinen Fischen einen Weg.[caption_left: Fridolin Scherrer zeigt ein gutes Beispiel am Kübach: Das Schilf beschattet das Wasser, wodurch es sich weniger abwärmt. Das ist nicht zu unterschätzen: Im Littenbach hat Scherrer einaml auf einer Distanz von rund 1,5 Kilometer einen Wassertemperatur-Unterschied von 8 Grad Celsius festgestellt .  Bild: ys]Fischereiverein führt wenn nötig Notfischungen durchDas letzte Mittel, um das Leben der Forelle zu retten, wäre eine Notfischung. Dazu wird das Gewässer unter Strom gesetzt, damit die Fische verlegt werden können. Diese Aktion musste Scherrer wegen der Hitze letztmals vor drei Jahren durchführen.Vor einer Woche hat der Schweizer Fischereiverband vor einem massenhaften Fischsterben gewarnt, wie es 2003 und (in abgeschwächter Form) 2018 stattfand: «Für die Fische stehen die Zeichen auf Tragödie.» Besonders stark ist die Gefahr am Hochrhein bei Schaffhausen. Im Rheintal wird das Gewässersystem vom Alpenrhein dominiert. Dieser führt kaltes Wasser aus den Bündner Bergen, das sich vor der Einmündung in den Bodensee auch nicht deutlich erhitzt.Weiter unten im Kübach lupft Scherrer einen Stein, darunter sieht er Bachflohkrebse. Unter einem anderen Stein hat eine Köcherfliege ein befruchtetes Ei deponiert. Die Köcherfliegen bauen zum Schutz ihrer Larven eine Behausung aus Baumrinde und Gräsern. Man sieht Scherrer an, dass er sich über seine Entdeckungen freut: «Leben im Fluss ist ein Zeichen für gute Wasserqualität.»Zustand so schlecht, dass er nur besser werden kannDennoch sterben auch im Rheintal die Fische, die Tragödie ist eher stiller Art: Nahezu täglich und unbemerkt schwindet der Fischbestand. Die internationale Regierungskonferenz Alpenrhein hat 2019 im Alpenrhein ein fischökologisches Monitoring durchgeführt. Von mehr als 30 Fischarten im Jahr 1990 sind gerade noch 15 nachgewiesen worden, wovon zehn vom Aussterben bedroht sind. Der schon 2013 mit durchschnittlich zehn Kilo pro Hektar Wasserfläche tiefe Fischbestand ist nochmals um mehr als die Hälfte zurückgegangen (4 bis 16 kg/ha je nach Befischungsabschnitt).Das Fazit im IRKA-Bericht klingt fatalistisch: «Es besteht dringender Handlungsbedarf. Da sich der Alpenrhein aber schon 2013 durchgehend in der schlechtesten Bewertungsklasse befand, ist keine weitere Verschlechterung des fischökologischen Zustandes mehr möglich.»«In schlechtem und naturfernem Zustand»Der Alpenrhein ist die Lebensader der Rheintaler Gewässer. Sein Zustand wird auch in den kleineren Gewässern wie dem Littenbach oder der Rietaach abgebildet. Aber auch die Struktur der Bäche spielt eine Rolle. «Viele Gewässer und Bäche im Rheintal sind mehrheitlich in einem schlechten und sehr naturfremden Zustand», sagt Michael Kugler vom kantonalen Amt für Natur, Jagd und Fischerei. Vielfalt im Lebensraum bedeutet Vielfalt an Fisch- und anderen Arten, hohe Biodiversität. Aber viele Bäche böten morphologisch in vielerlei Hinsicht schlechte Bedingungen: «Sie sind oft stark begradigt und kanalisiert, vielfach kaum oder zu wenig beschattet, wodurch sie sich schnell erwärmen und für Fische schnell kritische bis tödliche Temperaturen erreichen.»Ein weiteres Problem sei, dass die Gewässersysteme vielfach nicht vernetzt sind: «Viele Seitenbäche sind vom Alpenrhein oder von anderen grösseren Fliessgewässern abgetrennt.» Was umso umso verheerender ist, weil der Alpenrhein gemäss den Ergebnissen des jüngsten IRKA-Monitring für einen Grossteil der Fischfauna als Reproduktionsraum ausfällt.Denn im Rhein finden die Fische keinen Lebensraum mehr zum Ablaichen. Der stark regulierte Fluss bietet keine Rückzugsmöglichkeiten. Deutlich verschärft haben sich in den letzten 20 Jahren die kurzfristig und schnell auftretenden Wasserstands-Schwankungen , die meist von Kraftwerken ausgehen. Michael Kugler erklärt: «Die Stromproduktion funktioniert mittlerweile wie eine Börse: Wenn der Strombedarf und Kurs am besten ist, werden die Schleusen geöffnet und das Wasser turbinert.» Das führt zu starken Abflussschwankungen in kurzen Abständen, was als Schwall/Sunk bezeichnet wird. Dadurch verändern sich ständig die Lebensraumbedingungen der Fische und anderen aquatischen Tier (Insekten, Klein- und Fischnährtiere), die schnell unterschiedlichen Strömungsgeschwindigkeiten und Trübung ausgesetzt sind und entweder weggeschwemmt oder von Feinsedimenten überlagert werden.[caption_left: Im Schulhausweiher im Kübach schwimmt zurzeit eine grosse Forelle.  Bild: ys]«Den Abendsprung der Forelle gibt es nicht mehr»Fischer Fridolin Scherrer und seine Kolleginnen und Kollegen haben in den letzten Jahrzehnten erlebt, dass die Artenvielfalt kleiner wird. Der stetig sinkende Grundwasserspiegel, die intensive Landwirtschaft und die Klimaerwärmung sind nur einige Punkte, die den Gewässern zu schaffen machen. Dadurch fehlt es den Fischen an Nahrungsvielfalt: «Früher machten Forellen am Binnenkanal noch den Abendsprung, um grosse Insekten an der Wasseroberfläche zu fangen. Den sieht man nicht mehr – schlicht, weil’s diese Insekten nicht mehr gibt.»Er hofft, dass sich die Situation dank einiger Renaturierungen bessert, die inzwischen gesetzlich im Zuge von Hochwasserschutzprojekten verlangt werden. «Früher ging’s bei den Gewässern nur um Hochwasserschutz. Dieser ist zurecht immer noch prioritär, aber ökologische Aspekte werden inzwischen auch beachtet», sagt Scherrer. Er verweist auf das Projekt «Hochwasserschutz Littenbach – Äächeli» der Gemeinden Au und Berneck, in dem viele Gewässer auch ökologisch aufgewertet werden.Für die Forelle im Kübach sind das gute Nachrichten: Sie und vor allem ihre Jungen können ihren zusätzlichen Lebensraum vielleicht nutzen, um hier eine Population zu bilden. Wie es gemäss einem Nachbarn vor 20, 30 Jahren war: «Damals schwammen 20 Forellen in diesem Weiher.» Einsatz für die Lebensräume der FischeDer Fischereiverein Mittelrheintal bezahlt dem Kanton 18 000 Franken pro Jahr, um Gewässer in seinem Gebiet zu pachten. Befischbar sind der Alte Rhein, der Binnenkanal sowie Rietaach und Moosanger. Für diese und weitere kleinere Gewässer, wie eben den Kübach, übernimmt der Verein die Hege und Pflege.Diese umfassende Aufgabe wird ehrenamtlich geleistet. Sie umfasst beispielsweise Ausfischungen, bevor ein Weiher ausgebaggert wird. Der Verein setzt auch kleine Jungfische (Äschen, Bachforellen) ein. Und vor allem beobachten Fridolin Scherrer, der Gärtner ist, und seine Kollegen Flora und Fauna rund um die Bäche und Tümpel. Nach dem Grossbrand in Rebstein hat Scherrer nachgeschaut, ob der unweit gelegenes Schlipfbach beeinträchtigt wurde (wurde er nicht: «Die Feuerwehr hat sauber gearbeitet»).Im Gegensatz zu anderen Fischereivereinen ist der Fischereiverein Mittelrheintal nicht vom Mitgliederschwund betroffen, was er dem Alten Rhein in Diepoldsau zu verdanken hat. Das stehende Gewässer ist ein Naturjuwel für Fischer, fast 300 Patente, davon 60 Jungfischerpatente, setzt der Verein hier ab. Am Binnenkanal besitzen knapp 70 Fischerinnen und Fischer ein Patent: «Mehr als 30 sind aber nicht aktiv», sagt Gewässerwart Fridolin Scherrer.Das liegt daran, dass es kaum mehr etwas zu fangen gibt: Ganze 73 Fische sind 2021 aus dem Binnenkanal geangelt worden, vor 20 Jahren waren es noch mehr als zehn Mal so viele (780 Fische), 2011 waren es 415. Im Alpenrhein wurden letztes Jahr noch 1161 Fische aus dem Wasser gezogen, 174 davon zwischen der Einmündung der Ill (Höhe Rüthi) und dem Bodensee. Um die Jahrhundertwende wurden im Alpenrhein noch bis zu 6000 Fänge pro Jahr regis­triert.Unverkennbar ist der Wandel der Fischereivereine: Das Fischen nimmt für deren Mitglieder an Bedeutung ab, während die Pflege und der Erhalt der Natur in den und um die Gewässer in den Vordergrund rücken.  

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