12.06.2021

«Die Grundimmunität ist entscheidend»

Die Praxis für Psychiatrie/Psychotherapie verzeichnet seit Herbst 20 bis 30 Prozent mehr Anmeldungen.

Von Reto Wälter
aktualisiert am 03.11.2022
Diepoldsau Die Praxis für Psychiatrie/Psychotherapie ist seit 15 Jahren im mittleren Rheintal ansässig und beschäftigt derzeit sieben Therapeuten. Abgedeckt wird das gesamte Spektrum an psychischen Erkrankungen, behandelt wird vom Jugendlichen bis zum Greis. Der Therapeut ist dabei Begleiter bei einem Prozess des Patienten, der sich kurz zusammenfassen lässt mit: hinfallen, aufstehen, Krone richten, weiter gehen. Auskunft über die Phasen der Pandemie gab Praxisleiter Dr. med. Klaus Begle. Er ist Allgemeinmediziner, Psychiater und Psychotherapeut. Begle arbeitete vier Jahre als Allgemeinmediziner, 13 Jahre stationär in Kliniken und seit 16 Jahren ambulant in der Praxis. Seine Aufgabe in einer psychiatrischen Behandlung sei im Wesentlichen, Begleitperson in einer Krise zu sein. Dazu gehöre, eine Beziehung zum Patienten herzustellen und Entwicklungen sowie Lösungen bei Konflikten/Störungen anzustossen.Erste Welle «Der Verlauf der Ereignisse beschäftigten mich natürlich auch persönlich und ich machte mir Gedanken über die Sicherheit des Personals», sagt Dr. Klaus Begle. Für ihn selber sei aber rasch klar gewesen, dass Patienten mit einem erheblichen Leidensdruck und gesundheitlichen Störungen weiter behandelt werden müssen. Im Team selber war die Befindlichkeit sehr unterschiedlich, was zu Spannungen, vielen und langen Diskussionen führte. Während manche Praxen die Situation als lebensgefährlich einstuften, bereits mit Maske arbeiteten und fanden, die Praxis müsste ei-gentlich geschlossen werden, empfanden die anderen bereits die vorgeschriebenen Hygienemassnahmen als übertrieben. Die Praxis mit 300 bis 400 Patienten stellte sich mit dem vorgeschriebenen Hygienekonzept und räumlich auf die Situation ein. Es kam dann kaum zu Ausfällen und nur etwa fünf Prozent nahmen das Angebot von Onlinesitzungen wahr. Davon betroffen waren vor allem Risikopatienten aufgrund ihres Alters oder entsprechender Vorerkrankungen. Es gab bis jetzt keine Coronapatienten, die sich nachweislich in der Praxis angesteckt haben. Auch das Personal blieb verschont – nebst einem Fall während der zweiten Welle, als beim Untersuch einer Bauchgrippe als Nebenbefund ein positives Testergebnis herauskam – was Quarantäne bedeutete.ZwischenzeitIn dieser Zeit herrschte wieder Normalbetrieb. Während dieser wie auch während den anderen Phasen herrschte eine generelle Verunsicherung, welche Regeln nun gelten, da sie immer wieder änderten und auch verschiedene Stellen Vorschriften oder Empfehlungen abgaben.Zweite WelleEinschneidend war, als der Bundesrat die Maskenpflicht verfügte und die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie dies unterstützte. «Die Situation, trotz der anderen Massnahmen wie Lüften, Desinfizieren und Abstandhalten in der Therapiesitzung auch noch mit einer Maske zu arbeiten, ist vergleichbar mit einem Chirurgen, der die Wunde mit einem Tuch abdeckt und dann blind weiterarbeitet», erklärt der Psychotherapeut. Die Mimik mache ein Grossteil der nonverbalen Kommunikation aus und sei ein wichtiges Arbeitsinstrument, um lesen zu können, was im Patienten vor sich geht. «Ist das Gesicht zu einem grossen Teil verdeckt, kommt es zu vielen Missverständnissen und es ist sehr schwierig, eine Beziehung aufzubauen. Und ohne diese ist keine Therapie möglich», sagt Dr. Begle. Ab Herbst stiegen die Anmeldungen an. Sie nahmen ab Februar nochmals deutlich zu und verbleiben bis heute auf diesem hohen Niveau. Mehr Anmeldungen beziehungsweise der um 20 bis 30 Prozent erhöhte Arbeitsanfall werden  hauptsächlich  durch Hausarztpraxen und die Verschlechterung bestehender Erkrankungen verursacht. Für Beg-le zeigen sich darin deutlich die Auswirkungen der politischen und wirtschaftlichen Eindämmungsmassnahmen: «Die psychischen Ressourcen und die Widerstandsfähigkeit sind bei einer Belastung über mehrere Monate irgendwann erschöpft.» Das zeigte sich, indem bei Patienten mit einer latenten, also vorhandenen, aber nicht in Erscheinung tretenden Krankheit, diese eher wieder ausbrach. Anderen verursachte der wirtschaftliche Druck, weniger Lohn, oder gar der Verlust des Arbeitsplatzes Probleme, oder partnerschaftliche Auseinandersetzungen machten zu schaffen. «Krank kann auch die Einschränkung oder gar der Wegfall von sozialen Kontakten machen, dazu gehört übrigens auch der Körperkontakt», sagt Klaus Begle. Besonders einschneidend ist es, wenn Partner, Elternteile, Geschwister oder Kinder sich nicht mehr sehen können und etwa gar durch Landesgrenzen über Monate voneinander getrennt sind. Für ihn war es besonders schwierig zu entscheiden, wo dringendst reagiert werden muss, allenfalls mit einer stationären Behandlung in einer Klinik, und wo eher noch zugewartet werden kann: «Um mit einer ambulanten Behandlung beginnen zu können, beträgt die Wartezeit teilweise Monate und hat sich damit deutlich verlängert. Aber schon vorher musste ein Patient wochenlang warten. Die psychiatrische Grundversorgung war im Rheintal vorher schon überlastet, wir sind längst am Triagieren, also am Selektionieren. Es gibt schlichtweg zu wenig Angebote.» Ein Grund für die stärkere Nachfrage nach einer psychia-trischen Behandlung sieht Begle im Umgang der Behörden mit der Pandemie: «Es ist eine Grundregel in der Medizin, dass eine Behandlung nicht mehr Schaden zufügen sollte, als sie nützt.» Diesen Grundsatz habe man mit den verhängten Massnahmen ausser Kraft gesetzt. «Es wurde nicht berücksichtigt, was die Einschränkungen für psychische Auswirkungen haben – und damit auch auf die körperliche Gesundheit.» Als Beispiele erwähnt er die Isolation der Bewohner von Altersheimen oder die Zuweisungsverfahren in den Spitälern, wenn die Infizierten von komplett verhülltem Personal in abgeschottete Bereiche geleitet wurden. «Man könnte auch sagen, wir haben eine Angstpandemie», sagt Dr. Begle. Ebenfalls kritisiert er, dass nur die Fall- und Todeszahlen regierten. «Wer positiv auf Covid getestet wurde und verstarb, wurde als Corona-Todesfall verbucht. Schwere Vorerkrankungen, selbst Lungenkrankheiten, wurden nicht ausgewiesen», sagt Begle, der selbst zusätzliche allgemeinmedizinische Ausbildungen durchlief. Er bezweifle auch, dass die Übersterblichkeit von bis zu zehn Prozent allein auf das Virus zurückzuführen seien. Das führt ihn zu seinem nächsten Kritikpunkt: «Es wurde und wird vernachlässigt, darauf hinzuweisen, wie wichtig die unspezifische Immunität und die psychische und körperliche Verfassung» ist, sagt der Psychiater. Dass Ernährung, genügend Schlaf, körperliche Betätigung und gute Beziehungen entscheidend zur Gesundheit und Immunität beitragen. «In der Gesundheitspolitik gibt es nur noch die Pandemie und als Allheilmittel die Tests und die Impfung, das heisst die spezifische Immunität. Aber Gesundheit ist  mehr als das.» Wenn er sehe, das Menschen allein im Auto, auf menschenleeren Alleen oder gänzlich in der freien Natur mit Masken daher kämen, dann sei klar: Es läuft etwas schief und die Angst ist allgegenwärtig. Beg-le macht eine grosse Verunsicherung aus und einen sozialen Druck, der heisst: Testen, impfen, genesen, ansonsten ist jemand eine Gefahr für die anderen. «Das ist eine Verzerrung der Wirklichkeit.» Der Psychiater erlebt diese Zeiten aber auch als positiv. Weil sowohl geschäftlich wie auch privat viele Veranstaltungen und somit auch Termine und Verpflichtungen wegfallen, ist sein Leben stressfreier und entspannter. Er schätzt es, enge Kontakte zu pflegen, sich mehr auf die Familie konzentrieren und sich mit persönlich Vorlieben beschäftigen zu können. «Das wirkt sich auf die Neuropsychoimmunologie, der körpereigenen Abwehr von Krankheiten, positiv aus.» Ausblick«Mediziner und Medienleute müssen sich bewusst werden, dass zwischenmenschliche Kontakte ein wichtiger Gesundheitsfaktor sind», sagt Dr. Begle. Dass sich Menschen nur noch mit «halbem Gesicht» begegnen können, findet er auf längere Sicht unzumutbar. Die soziale Isolation, gerade in Pflegeheimen aufrechtzuerhalten, sei ein hoher Preis und man müsse sich fragen, ob er gerechtfertigt sei. In den letzten 20 Jahren ist die Lebenserwartung um zweieinhalb Jahre gestiegen und nun mit der Pandemie kurzfristig um sechs Monate gesunken: 85 Jahre bei Frauen, 80 Jahre bei Männern. «In diesem Alter ist selten jemand rundherum gesund. Es ist unwahrscheinlich, dass dann irgendwann kein Infekt mehr zum Tod führen kann. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Es geht nicht immer noch höher», sagt Klaus Begle. Er glaube, dass die Auswirkungen der Pandemie noch mindestens ein Jahr spürbar seien. «Die Pandemie verursachte eine Störung des Urvertrauens», sagt Dr. Begle. Man werde noch länger Hemmungen haben, Hände zu schütteln und dem Gegenüber zu nahe zu kommen. «Im Zusammenhang mit dem Maskenhandling sagte man, dass man sich nicht mehr selber ins Gesicht fassen soll. Wie soll ich mich denn selber spüren, wenn ich mir nicht einmal mehr ins Gesicht fassen kann und meine eigenen Hände wie eine Pestquelle behandeln muss?», fragt der Psychiater. Und auch der Körperkontakt zu Bezugspersonen sei wichtig. Das müsse man pflegen. «Infektionen und Epidemien gehören zu unserem gesellschaftlichen Leben wie andere körperliche und psychische Erkrankungen, die jeden Einzelnen treffen und immunologisch herausfordern. Menschen haben Stärken und Schwächen; wesentlich ist, dass wir an jeder Krise wachsen dürfen und nicht vereinsamen.»Unsere Serie zeichnet chronologisch nach, was sich für die Menschen aus der Region in den einzelnen Phasen der Pandemie verändert hat.

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