15.12.2019

Die Gewalt wird zum Ventil

Die Misshandlung von älteren Menschen ist verbreitet. Oft stehen Täter und Opfer in einer besonderen Beziehung.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Herr und Frau M. sind seit 38 Jahren verheiratet. Er leidet an Demenz und ist sozial stark eingeschränkt. Sie hat weder Geschwister noch Kinder. Die einzige Bezugsperson ist ihr Mann, dem sie sich stark verpflichtet fühlt. Frau M. hat kaum Ersparnisse und ist von ihrem Mann abhängig. Sie pflegt ihn und kümmert sich um sein Wohlbefinden. Obwohl er sie noch nie geschlagen und auch nicht bedroht hat, piesackt er sie verbal mit Beschimpfungen.Gewalt gegen andere Menschen ist ein Bestandteil unserer Gesellschaft und kennt keine Altersgrenze. «Die Gewalt kann von An- und Zugehörigen ausgehen, die ihre betagten Eltern betreuen oder pflegen, oder von der älteren Person selbst», sagt Sonia Bontognali, Leitung Hilfe und Betreuung zu Hause von der Pro Senectute Rheintal Werdenberg Sarganserland. Die Tochter bindet ihren Vater ans Bett, während sie zur Arbeit geht. Die Ehefrau beschimpft ihren dementen Mann, weil er um 6 Uhr morgens die Wohnung staubsaugt. Der arbeitslose Sohn lebt von der Rente seiner Mutter. Er vernachlässigt die Frau und lässt die Wohnung verwahrlosen.Häusliche Gewalt kennt viele Formen«Von häuslicher Gewalt ist etwa jede fünfte ältere Person betroffen», sagt Sonia Bontognali. Unter Gewalt gegen ältere Personen fallen aktive Misshandlungen ebenso wie passive Unterlassungen. «Häusliche Gewalt gegen ältere Personen zeigt sich in unterschiedlichen Formen. Häufig treten mehrere Gewaltformen gemeinsam auf und verstärken sich gegenseitig», sagt Judith Schneider von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Rheintal. Es lassen sich folgende Formen unterscheiden: Tatsächliche oder angedrohte Handlungen, die zu körperlichen oder seelischen Verletzungen führen, verbale oder nicht verbale Angriffe auf das Selbstbewusstsein und die Würde anderer Menschen, sexuelle Kontakte oder Handlungen ohne Einverständnis des anderen, Vernachlässigung sowie finanzieller und materieller Missbrauch.«Die Bedingungen von Gewalt sind mehrdimensional und veränderbar», sagt Judith Schneider. Meist geraten Söhne und Töchter unvorbereitet in eine Betreuungssituation, die ihnen viel Zeit und Kraft abverlangt. «Die Betreuung von Angehörigen zu Hause ist in der Regel mit einer grossen körperlichen und emotionalen Belastung verbunden, die die Pflegenden an ihre Grenzen bringen kann», sagt Sonia Bontognali. Zeitmangel, fehlende Kenntnisse und Erschöpfung können dazu führen, dass die Bedürfnisse des betreuten Menschen nicht voll erfüllt oder die Pflege vernachlässigt wird.Laut Judith Schneider führen eingeschränkte kognitive Fähigkeiten, fehlende Unterstützung und soziale Isolation sowie gegenseitige Abhängigkeiten und erlernte Gewalttätigkeit als Konfliktlösungsmuster zu Gewalt gegen ältere Menschen.«Gewalt hat viele Gesichter», sagt Judith Schneider, «strukturelle Gewalt wie Ausgrenzen, Ruhigstellen oder Zwangseinweisen, Gewalt aus Notwehr und Verzweiflung, Gewalt von alleingelassenen pflegenden Angehörigen am Rande der Belastbarkeit. Aber auch alte Menschen können gewalttätig werden, wenn sie in einer Notlage sind.»Ältere Menschen fühlen sich oft wehrlosGewalt gegen ältere Personen findet oft im häuslichen Bereich statt. Kommt hinzu, dass Gewaltausübende und Opfer in einer ganz speziellen Beziehung zueinanderstehen. Dies führt gemäss Sonia Bontognali zur Wehrlosigkeit der älteren Menschen. «Betroffene Menschen schweigen oft aus Scham und weil sie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen.» Sie haben Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass gesellschaftliche Schande über sie hereinbricht oder dass sie mangels Möglichkeiten in ein Altersheim abgeschoben werden.Frauen fühlen sich besonders verantwortlich für Angehörige und Nachbarn und übernehmen bedeutend häufiger als Männer die Betreuung ihrer Mitmenschen. «Soziales Engagement ist wichtig, solange es zu keiner Überanstrengung kommt», sagt Sonia Bontognali, «hier braucht es Verständnis, Information und tatkräftige Entlastung.» Ältere Frauen hätten gelernt, zu dienen. Selbstlos und grenzenlos. Junge Frauen hingegen seien selbstbewusster und fähig, Grenzen zu setzen. Jede Frau sollte die Chance haben, sich beruflich zu entfalten und sozial mit Menschen in einer ähnlichen Lebensphase verbunden zu sein, damit sie sich nicht übers Dienen identifizieren muss. Die Hilfe an Mitmenschen kann dann in einem erfüllenden, guten Rahmen geleistet werden. «Durch gezielte Information und Coaching versuchen wir, betreuende Männer und Frauen zu stärken. Wenn sie sich selber ernst nehmen, Grenzen setzen und natürlich auch wissen, wo sie sich Hilfe holen können, liegt es in ihrer Hand, die Situation zu ändern», sagt Sonia Bontognali. Die beste Vorbeugung gegen Gewalt erfolge, wenn Hilfe nicht im Verborgenen stattfindet, sondern Hilfesysteme offen gepflegt werden.Kasten:Alters- und Pflegeheime sprechen darüberGewalt gegen alte Menschen ist allgegenwärtig und doch wird kaum darüber gesprochen. In Rheintaler Alters- und Pflegeheimen macht man das Problem zum Thema und befasst sich damit, um entstehende Konflikte im Keim zu ersticken. Mit dem Personal und den Bewohnern werden alle möglichen Aspekte behandelt, viele Informationen bereitgestellt und auch Regeln aufgestellt. Es sei ein umfassendes und wichtiges Thema, auf das die Heime sensibilisiert sind. «Gerade weil wir uns dieser Themen bewusst sind und unsere Leute schulen, haben wir keine Gewalt gegen ältere Menschen zu verzeichnen», sagt Kurt Maute, Heimleiter Zweckverband Altersheim Feldhof Oberriet-Rüthi. (bes)

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