10.03.2020

Die Gesundheit einer einzelnen Person hat Vorrang

Widnau bittet Reisende aus Risikogebieten, die Bürgerversammlung nicht zu besuchen. Ist das zulässig?

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 03.11.2022
Mit einem Inserat, das am 9. März in dieser Zeitung erschienen ist, macht die Gemeinde Widnau auf die Bürgerversammlung der politischen Gemeinde aufmerksam. Darin enthalten ist ein Hinweis: «Gemäss den Bestimmungen zur Bekämpfung des Coronavirus bitten wir Personen, die sich in den letzten 14 Tagen in den vom Bundesamt für Gesundheit bezeichneten Risikogebieten aufgehalten haben, auf die Teilnahme an der Bürgerversammlung zu verzichten.»Widnau ist bisher die einzige Rheintaler Gemeinde, die in der Anzeige auf die Corona-Einschränkung hinweist. «Wir haben diesen Text eingefügt, um die Bevölkerung zu sensibilisieren», sagt Gemeindeschreiber Andreas Hanimann. Doch ist diese Bestimmung überhaupt zulässig? Schliesslich führt sie dazu, dass Personen von der Abstimmung ausgeschlossen werden: An einer Bürgerversammlung können nur Anwesende abstimmen. So ist es zum Beispiel nicht möglich, dass sich ein Stimmberechtigter durch eine andere Person vertreten lässt.Alexander Gulde, Leiter des kantonalen Amts für Gemeinden, erkennt im Coronavirus- Hinweis der Gemeinde Widnau keinen Verstoss gegen demokratische Regeln. Er verweist auf die Homepage des Kantons St. Gallen, dort steht: «Es ist zulässig, politische Rechte einzuschränken, wenn diese Einschränkung auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse erfolgt und verhältnismässig ist.» Gulde erklärt: «Es handelt sich um eine Interessenabwägung: Bei einer einzelnen Person ist der Gesundheitsaspekt eher höher zu gewichten als die Wahrung politischer Rechte.»Anders wäre die Situation, wenn halb Widnau wegen dieser Bestimmung von der Bürgerversammlung ausgeschlossen würde: «Dann wäre die Einschränkung wahrscheinlich nicht zulässig», sagt Gulde.Die Gemeinden müssen ihre Bürgerversammlungen bis am 15. April durchführen, das ist gesetzlich vorgeschrieben. Normalerweise könnten sie ein Gesuch stellen, um die Versammlung bis spätestens am 15. Juni nachzuholen. Der Normalfall ist jedoch aufgehoben: Am Montagnachmittag erliess das Departement des Innern des Kantons St. Gallen eine Verfügung, nach der die Bürgerversammlungen ohne Gesuch der Gemeinde bis zum 20. Mai verschoben werden können. Danach müssen die unaufschiebbaren Geschäfte wie das Budget, der Steuerfuss und die Jahresrechnung an die Urne gebracht werden.Die Bürgerversammlung der Politischen Gemeinde Widnau ist am Montag, 23. März, geplant, also in knapp zwei Wochen. Ob sie wirklich stattfindet, hängt davon ab, wie sich die Massnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus weiter entwickeln. Wie immer in dieser epidemischen Zeit gilt: Was heute richtig ist, kann morgen schon wieder falsch sein.Neu ist die ganze Welt ein RisikogebietSo ist es mittlerweile nicht mehr korrekt, von Risikogebieten (bzw. «betroffenen Gebieten») zu sprechen, weil das Bundesamt für Gesundheit (BAG) diese aufgehoben hat: «Neu besteht in fast allen Regionen der ganzen Welt das Risiko, sich mit dem Coronavirus anzustecken.»Allerdings dürften an den Versammlungen die Plätze neben Zypern-Reisenden weiter eher begehrt sein als neben Menschen, die gerade aus Mailand kommen. Yves Solenthaler

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