30.10.2019

Die Fabrik der Bubenträume

Pioniergeist und Pragmatik: Das St. Galler Staatsarchiv zeigt neu erschlossene Bilder aus den Flug- und Fahrzeugwerken Altenrhein (FFA).

Von Adrian Vögele
aktualisiert am 03.11.2022
Flugzeuge, Eisenbahnen, Seilbahnen, Segelboote, Trams, Tanklaster:  Wer heutzutage in der Ostschweiz ein Sammelsurium dieser Art sucht, wird höchstens noch im Spielzeugladen fündig. Über Jahrzehnte aber gab es in der Region eine Adresse für all diese Bubenträume – im Originalformat: Die Flug- und Fahrzeugwerke Altenrhein (FFA) stellten in ihrer vierzigjährigen Firmengeschichte eine Vielzahl rollender, schwimmender und fliegender Transportmittel her.Seit dem Verkauf und der Aufteilung des Unternehmens 1987 leben die Werft und ihre Kreationen in Erinnerungen weiter – und in Dokumenten. Am Montag hat das Staatsarchiv St. Gallen einen Bestand von neu erschlossenen und digitalisierten Fotografien aus dem Eigentum der Firma präsentiert. Der Rorschacher Ingenieur und Verkehrshistoriker Anton Heer hat mehrere Tausend Bilder durchgearbeitet und Inhalte sowie Daten recherchiert ­– im Kontakt mit diversen Zeitzeugen, die bei der FFA tätig waren. Vom Kampfjet bis zur CampingausrüstungAuf vielen dieser FFA-Fotos dominiert der technische Blickwinkel: In der Regel stehen die Maschinen, Produkte und Bauteile im Zentrum, nicht die Mitarbeiter. Dennoch gibt es Verblüffendes zu entdecken. So entwickelte die Firma in den 1950er-Jahren nicht nur den berühmten Kampfjet P-16, sondern beispielsweise auch ein Camping-Iglu aus Kunststoff. Überhaupt besteht der Reiz der FFA rückblickend vor allem darin, dass sie auf Vielfalt statt auf Spezialisierung setzte.So wäre es heute unvorstellbar, dass in derselben Werkhalle gleichzeitig Tramwagen und Flugzeuge gebaut werden. Flexibilität war erst recht gefragt, nachdem 1958 zwei Prototypen des P-16 abgestürzt waren und der Bund seinen 400-Millionen-Auftrag stornierte. FFA-Besitzer Claudio Caroni – der Grossvater des Ausserrhoder Ständerats Andrea Caroni – leistete vergeblich Widerstand gegen den Entscheid aus Bern. «Sie würde ich nicht einmal als Portier einstellen», soll der temperamentvolle Tessiner dem damaligen Verteidigungsminister Paul Chaudet ins Gesicht gesagt haben. 1969 konnte Caroni wieder lachen: Ein Foto zeigt ihn beim Erstflug des Trainingsflugzeuges AS 202 Bravo. Die Maschine wurde ein internationaler Erfolg. Zugleich intensivierte die FFA den Waggonbau, lieferte Seilbahnen in die USA – und war sich auch für weniger prestigeträchtige Aufträge wie die Bearbeitung von Bratpfannen nicht zu schade. Dahinter stand ein Geschäftsmodell alter Schule: Zusatzaufträge suchen, anstatt die Belegschaft reduzieren.Die Bratpfannen-Episode ist im Bildarchiv nicht dokumentiert – dafür liefert die Abteilung Bootsbau erheiternde Einblicke. Mit grossem Eifer testen Mitarbeiter 1971 im sogenannten «Caroni-Hafen» das Sinkverhalten eines FFA-Boots. Humor blitzt auch auf Bildern des amerikanischen Testpiloten Bill Lear mit einem Mitarbeiter namens Balmer durch – ein Original mit Zipfelmütze, das in der ganzen Firma für seine Unverfrorenheit bekannt war. Die Fotos stehen auch für die «Rettung» des glücklosen P-16 auf zivilem Weg: Der Kampfjet diente als Grundlage für das erfolgreiche US-Geschäftsflugzeug Learjet. Bei den FFA selber liefen militärische und zivile Projekte seit jeher parallel, ganz pragmatisch eben. Dass man im Bildarchiv Panzerketten nebst Sanitätsfahrzeugen und Ausrüstungsgegenständen für Spitäler findet, ist nicht ohne Ironie. Eher wenig Fotomaterial hat das Staatsarchiv bislang aus der Eisenbahnsparte der FFA – was mit der Aufteilung des Unternehmens zusammenhängt: Die Waggonabteilung ging 1987 an die Firma Schindler über – samt den Fotos. 

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