13.11.2020

Die Chefin lebt es vor

Am digitalen AGV-Lohn-Talk gehörte die Bühne modernen Arbeitgeberinnen.

Von Seraina Hess
aktualisiert am 03.11.2022
Eigentlich hätten der ersten  reinen Frauenrunde in der Geschichte des AGV-Lohnapéros volle Sitzreihen gebührt. Stattdessen referierten, diskutierten und moderierten die sechs Un­ternehmerinnen und Politikerinnen vor laufenden Kameras und Schnittpult im bestens verkabelten Widebaumsaal. Denn die Branchenperspektiven auf Gehaltserhöhungen (siehe un­ten) sowie die Podiumsdiskussion wurden gestreamt und den Mitgliedern damit zu Hause oder im Büro zugänglich gemacht.Kein Tool ersetzt den persönlichen AustauschDas bald schon abgelaufene Jahr bot denn auch genügend Diskussionsstoff für die Gesprächsrunde. Unter dem Titel «New Work» ging es um flexibles Arbeiten mit individuellen Lösungen für Arbeitnehmer, was in Zeiten von Corona und Homeoffice neue Bedeutung gewonnen hat. Letzterem steht die Geschäftsführerin der Romanshorner Ernst Fischer AG, Nationalrätin Diana Gutjahr, skeptisch gegenüber. «Es ist für einen Industriebetrieb illusorisch, die Leute nur noch im Homeoffice arbeiten zu lassen.» Damit meinte Gutjahr aber nicht nur handwerklich tätige Mitarbeiter, sondern auch solche im Büro: «Es braucht den persönlichen Austausch zwingend, um gemeinsam weiterzukommen.» Ähnlich sieht es Andrea Cristuzzi, Geschäftsleitungsmitglied der Widnauer Cristuzzi Immobilien -Treuhand AG, die Homeoffice zwar durchaus auch nach Corona in Erwägung zieht, gleichzeitig aber auf gewisse Präsenzzeiten setzt. «Das Stichwort New Work bezieht sich aber nicht nur aufs Homeoffice, sondern auch auf die Strukturen in einem Betrieb.» So sei es in ihrem KMU gut möglich, für Mitarbeitende individuelle Lösungen zu finden, wenn es beispielsweise um die Vereinbarkeit von Familie und Karriere gehe. Cristuzzi, selbst erst vor Kurzem aus dem Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt, lebt mit ihrem Mann vor, wie flexible Modelle funktionieren können. «Dadurch sinkt bei Mitarbeitenden die Hemmschwelle, dieses Thema anzusprechen», sagte Cristuzzi.Neue Generation besteht nicht mehr aus PatronsVereinbarkeit ist denn auch das Stichwort, das Regierungsrätin Laura Bucher besonders am Herzen liegt, denn die Politikerin, die seit Juni in der Kantonsregierung sitzt, ist selbst Mutter zweier Buben. «Der Kanton als Arbeitgeber muss diesbezüglich mit gutem Beispiel vorangehen, denn es ist ein Thema, das Frau und Mann heute gleichermassen betrifft.» Themen wie ortsunabhängiges Arbeiten oder flexible Arbeitszeitmodelle seien schon länger aktuell. Heute komme man in Anbetracht des Fachkräftemangels sowieso nicht umhin, sich nach den Bedürfnissen der Mitarbeitenden zu richten, hielt Diana Gujahr fest. «Aber man muss eben nicht nur zusehen, dass es für den Arbeitnehmer stimmt, sondern auch für den Arbeitgeber.» Diese Erfahrung habe die Metallbauunternehmerin gemacht, als Hierarchien innerhalb des Betriebs abgeflacht wurden. «Wenn die Mitarbeitenden nicht mehr wissen, wer eigentlich entscheiden darf, ist das nicht förderlich. Wir haben deshalb begonnen, wieder vermehrt klare Hierarchien einzubauen.» Anders als der Führungsstil ihres Vaters sei der ihrige aber allemal. «Wir jüngeren Unternehmerinnen  haben es ja auch anders gelernt. So geben wir beispielsweise viel mehr Informationen an unsere Mitarbeiter weiter, kommunizieren oft und gezielt. Im Gegenzug erwarten wir aber auch, dass Mitarbeiter mitdenken und nicht blind dem Patron folgen.» Ein neuer Führungsstil hat mit Laura Bucher auch in einem Teil des Regierungsgebäudes Einzug gehalten. Das beginne schon beim eingeführten Duzis innerhalb des Departements des Innern und bei der Kaffeekultur im Vorzimmer ihres Büros. «Meine Assistentin muss meinen Gästen keinen Kaffee mehr servieren – jeder ist fähig, sich selbst eine Tasse füllen.» Auch in die Erarbeitung von Strategien beziehe sie viele Mitarbeiter ein, anstatt allein zu entscheiden. «Das kompliziert zwar vieles, führt aber zu zufriedenstellenden Ergebnissen», sagte Bucher.160 Mitglieder schauten am Bildschirm zuTrotz Corona-Pandemie hat es den Talk-Teilnehmerinnen letzten Endes nicht am grossen Publikum gefehlt. «In anderen Jahren waren es zwar jeweils gut 250 Gäste, doch mit 160 Personen, die den Stream zu Spitzenzeiten gleichzeitig verfolgt haben, sind wir sehr gut unterwegs. Damit hätten ich nicht gerechnet», zog AGV-Sekretär Thomas Bolt seine positive Bilanz zum ersten digitalen Lohn-Talk. Lohnerhöhung: Wenn, dann individuell Katherine Broder, Divisionsleiterin Leica Geosystems AGIndustrie Für einen Ausblick auf die Lohnentwicklungen in der Industrie ist es derzeit noch zu früh, die Zahlen stehen erst Ende November fest. Klar ist, dass ein starker Rückgang in der Auftragslage verzeichnet werden musste, speziell im Frühjahr. In der MEM-Industrie gibt es immer noch eine sehr grosse Lücke zum Vorjahr, doch im dritten Quartal zeichnet sich eine leichte Erholung ab. Wir dürfen also vorsichtig optimistisch sein. Laura Bucher, Regierungsrätin Kanton St. GallenVerwaltung Die Regierung beantragt dem Kantonsrat eine Pauschale in der Höhe von 0,4 % für individuelle Lohnmassnahmen und 0,4 % für strukturellen Personalbedarf. Die Rheintaler Gemeinden haben gemäss Umfrage ihre Lohnerhöhungen noch nicht festgelegt. Mehrheitlich übernehmen sie aber die Vorgaben des Kantonsrats, der Ende Monat tagt. Einzelne Gemeinden verzichten wegen der aktuellen Wirtschaftslage generell auf Anpassungen. Andrea Cristuzzi, GL-Mitglied Cristuzzi Immobilien-Treuhand AGDienstleistungen Trotz düsterer konjunktureller Aussichten auf das Jahr 2021 gibt mit 38 % der grösste Teil der befragten Dienstleister im AGV an, individuelle Lohnerhöhungen zwischen 0 und 0,5 % zu gewähren. Ein fast gleich grosser Teil, also 27 % der Befragten, gewährt keinerlei Erhöhung. 16 % erhöhen die Löhne generell um 1 bis 2 %, weitere 16 % setzen auf individuelle Erhöhungen zwischen 1 und 2 %. Nadia Sieber, Geschäftsführerin Sigmund Sieber AGBaugewerbe Arbeit ist in der Branche definitiv da, obschon viele Angst vor Verlusten haben. Gemäss UBS-Lohnumfrage gehen das Baugewerbe und die Architekturbüros von einer Lohnerhöhung in der Höhe von 0,5 % aus, wobei die Lohnerhöhungen je nach Branchenverband noch nicht verhandelt wurden oder ganz ausfallen. Die meisten befragten Rheintaler Unternehmen setzen auf individuelle Lohnerhöhungen. Brigitte Lüchinger, Präsidentin Arbeitgeberverband RheintalZahlen In 48 Tagen steht der Jahreswechsel an – einer der schwierigsten bisher. Vor allem international tätige Firmen haben einschneidende Monate hinter sich. Die Exporte in der Schweiz verzeichnen im dritten Jahresquartal ein Minus von 8,4 Prozent. Im Oktober haben im Rheintal 415 Firmen Kurzarbeit angemeldet (Vorjahr: 7), Die Arbeitslosenquote beträgt 3,0 % (1,9 %), ausserdem gibt insgesamt 2254 Stellensuchende (1518).

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