23.11.2020

«Die Bevölkerung macht es insgesamt gut»

«Die Menschen haben sich rasch an die widrigen Umstände der Pandemie gewöhnt», sagt Chefärztin Angela Brucher.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Ob die zweite Coronawelle ihren Höhepunkt im Rheintal erreicht hat, ist ungewiss. Angela Brucher ist Chefärztin bei den Psychiatrie-Diensten Süd. Wenige Tage vor dem Lockdown im März sagte sie in dieser Zeitung, es sei ein Akt der Solidarität, sich an Social Distancing zu halten. Sie bemerkte aber auch, dass es eine seelische Belastung darstelle. Nun spricht sie darüber, ob sich ihre Erwartungen erfüllt haben, und welche die Seele betreffenden Phänomene sie in der Pandemie beobachtet hat.«Ich denke, die Maske ist nicht Ursache, sondern Symptom der bestehenden Polarisierung in unserer Gesellschaft.»Angela Brucher, Chefärztin Psychiatrie-Dienste Süd (Standorte Heerbrugg, Uznach, Rapperswil, Pfäfers und Trübbach)  Angela Brucher, wie geht es Ihnen?Angela Brucher: Es ist eine bewegte Zeit. Ich habe viel zu tun – und eine Entspannung ist nicht absehbar. Ich merke, dass ich vermehrt auf meine Energie achten muss, mich bewusst erholen etc.In der ersten Welle kannte kaum jemand einen Menschen, der an Corona erkrankt war. Ich kenne heute viele Betroffene. Trifft es auch auf Ihr Umfeld zu?Ja, auch ich kenne privat und beruflich viele Menschen, die erkrankt sind. Die allermeisten haben sich wieder gut erholt. Das beruhigt auch etwas. Offensichtlich kann man die Infektion gut überstehen.Die Pandemie hat die Psyche betreffende Aspekte zutage gefördert, von denen wir im Frühling nichts ahnten. Positive wie negative. Welche überwiegen Ihrer Meinung nach?Insgesamt überwiegen sicher die Einschnitte. Vor allem die soziale Isolation durch das So­cial Distancing, die Unsicherheit durch die drohende Erkrankung, deren Verlauf recht unberechenbar ist, und für viele die existenzielle Bedrohung durch Arbeitsplatzverlust und dessen finanzielle und soziale Folgen, sehe ich als Belastungen.Positive Aspekte sind die Konzentration auf das Wesentliche und die dadurch gewonnene Zeit. Ich habe auch schon manche nun abgesagte Sitzung nicht wirklich vermisst. Für viele, die nun die Situation trotz Belastungen gut meistern, ist es auch ein Gewinn, die eigene Selbstwirksamkeit zu erleben.Die Maskenpflicht polarisiert: Manche Menschen sehen in ihr eine Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit. Bewerten diese ihr Bedürfnis höher als den Schutz anderer?Ich denke, die Maske ist nicht Ursache, sondern Symptom der bestehenden Polarisierung in unserer Gesellschaft. Hauptproblem aus meiner Sicht ist, dass ein Teil unserer Gesellschaft ihre Informationen nicht mehr aus öffentlichen Medien, Zeitungen etc. bezieht, sondern aus Facebook und Youtube-Kanälen. Ich erlebe in meinem Umfeld, dass Menschen Quellen zitieren, die äusserst fragwürdig sind, und gleichzeitig die gängigen Medien als «falsch» oder «einseitig» bezeichnen. Auch wissenschaftliche Fakten zählen dann nicht. Werden nun auf solchen Kanälen Verschwörungstheorien über Covid-19 und Masken verbreitet und Menschen diese unhinterfragt glauben, ist es aus deren Perspektive nur logisch, dass sie gegen die Maskenpflicht wettern. Ich frage mich, wie man diese Menschen wieder erreichen kann und dazu ermuntern, ihre Quellen kritischer zu hinterfragen.Wer schon vorher eine Maske trug, wurde oft beäugt. Das damit verbundene Unbehagen fällt nun weg. Begrüssen Sie die Klarheit?Ja, darüber sind wir froh. Auch unsere Mitarbeitenden haben sich positiv geäussert, als die generelle Maskenpflicht bei uns kam.Die Politik betont die Eigenverantwortung der Bürger. Der Einzelne trägt folglich eine höhere Last an der Gesundheit in der Gesellschaft als vor der Krise. Geht mit ihr eine Überforderung einher?Nein, ich glaube, sie ist gut. Überträgt man Menschen Ei­genverantwortung und behandelt sie als mündige Bürgerinnen und Bürger, nehmen sie die Verantwortung auch wahr. Ich denke mit Auflagen und Geboten, die nicht ausreichend verstanden werden, weckt man nur Widerstand und treibt die Menschen in die Arme der Verschwörungstheoretiker.Eigenverantwortung unterliegt einer Spannung. In letzter Konsequenz müsste ein Coronaleugner auf die Behandlung einer Covid-Erkrankung verzichten. Das wäre unethisch. Wo liegt die Grenze?Ich denke, die Eigenverantwortung endet dort, wo andere Menschen gefährdet werden. Man kann auch nicht «eigenverantwortlich entscheiden», betrunken oder zu schnell zu fahren. Wenn wir als Gesellschaft zusammenleben wollen, was ja niemand in Frage stellt, müssen wir den Schutz und das Wohl der anderen respektieren. Manchmal muss man in der Gruppe auch Regeln respektieren, wenn man sie nicht gänzlich versteht, sie aber dem Wohl der Allgemeinheit dienen.Zum Thema «Behandlung von Covidleugnern» Ich denke, es ist auch ein Wert unserer Gesellschaft, dass wir Menschen gesundheitliche Versorgung zukommen lassen, auch wenn sie ihr Leiden mitverantworten, z. B. Raucher/-innen, die eine Lungenerkrankung bekommen oder Risikosportler/-innen, die verunglücken. Diese Grundhaltung würde ich nicht in Frage stellen.Obwohl wir keinen zweiten Lockdown haben, ist das soziale und kulturelle Leben reduziert. Vielen Menschen nimmt dies den Druck, aktiv sein zu müssen. Was sagt das über unsere Gesellschaft vor Corona aus? Das trifft auch auf mich zu. Wie gesagt, war ich öfters schon froh, dass etwas ausfällt. Ich denke, es sagt aus, dass wir unsere Ruhezeit aufwerten und priorisieren sollten. Viele Menschen, ich inklusive, wollen zu viel machen und haben keine Zeit, uns wieder zu erholen, auszuruhen und genügend zu schlafen.Suchen heute mehr Menschen therapeutische Hilfe als vor der Pandemie?Ja, wir bemerken einen grossen Ansturm auf all unsere Angebote. Vor allem erleben wir sehr viel Not und krisenhafte Situationen.Wer depressiv oder ängstlich ist, zieht sich nun legitim zurück. Verstärkt das den Verlauf einer Erkrankung?Ich denke, manche Menschen wollen nicht zur Last fallen und suchen jetzt keine Hilfe auf, obwohl sie sie benötigen. Das kann zur Chronifizierung von Erkrankungen führen. Patientinnen und Patienten, die sehr ängstlich sind und das Bedürfnis haben, alles zu kontrollieren, leiden jetzt in der Situation der Unsicherheit, die schwer zu kontrollieren ist, auch mehr als sonst.Bietet die Pandemie Nährboden für ein Suchtverhalten wie Trinken, Gamen oder Einkaufen?Es kann sein, dass man sich zur Beruhigung oder zur Entspannung eher einmal mehr etwas «gönnt» als sonst.Ersuchen mehr Menschen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, um Hilfe? Ja, wir erleben mehr häusliche Gewalt. Ich denke, das kommt daher, dass Menschen mehr Zeit miteinander verbringen, weniger Ausweichmöglichkeiten haben und grundsätzlich eher angespannt sind. Es muss dann oft nur wenig passieren – und die Situation eskaliert.Sind mehr Menschen lebensmüde?Ja, im Sinne der gesteigerten Krisenhaftigkeit und Not wird auch regelmässig über Suizidgedanken berichtet. Eine Statistik, dass Suizide zugenommen hätten, ist mir nicht bekannt.Ist Existenzangst ein stärkeres Phänomen als in anderen Wirtschaftskrisen?Existenzangst ist ein grosses Phänomen im Moment. Ich vermute jedoch, dass frühere Wirtschaftskrisen oder die Zeit der Spanischen Grippe mit ähnlichen psychischen Folgen einhergegangen sind.Jugendliche leiden stärker als Erwachsene, wenn sie Gleichaltrige nicht informell treffen. Beobachten Sie bei ihnen Auswirkungen auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit?Jugendliche sind durch die sozialen Einschränkungen stärker betroffen, als zum Beispiel ich, da ich sowieso keinen Club besuchen würde. Gleichzeitig sind die Jugendlichen kaum von Covid betroffen. Wir verlangen ihnen somit sehr viel Solidarität ab. Das sollte man auch sagen und honorieren. Ich finde es wichtig, dass die Schulen offen bleiben. Dadurch ist die Ausbildung der Jugend gesichert und gewisse Sozialkontakte bleiben bestehen.Weihnachten ist das Fest der Familie. Es gilt als Hauptquelle der Ansteckungen. Welchen Rat geben Sie Familien, wie sie Diskussionen um Weihnachtsfeiern führen sollten?Das ist eine schwierige Frage, für die es keine Pauschallösung gibt. Ich finde es wichtig, dass niemand zu Weihnachten einsam ist und – ungewollt – alleine feiern muss. Ich würde daher mit Angehörigen sprechen, was sie selbst wollen, ob sie lieber für sich bleiben, um sich vor dem Virus zu schützen, oder ob ihnen die Gemeinschaft wichtiger ist. Auf jeden Fall würde ich Feiern in Grossgruppen vermeiden, würde meine Kontakte in Innenräumen einschränken und würde, auch wenn ich jemanden einlade, Abstand halten und lüften. Wenn das Wetter mitspielt, werde ich auch Treffen im Freien abhalten und mich mit Freunden z. B. zu einem Waldspaziergang verabreden.Entsprechen die Auswirkungen der Pandemie auf die Psyche Ihren Erwartungen?Eigentlich Ja. Insgesamt macht es die Bevölkerung, finde ich, sehr gut. Man hat sich rasch an die widrigen Umstände gewöhnt und verschiedene Mechanismen gefunden, sodass die meisten damit umgehen können.

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.