04.02.2020

«Die Beschneidungen müssen aufhören»

Bella Glinski aus St. Margrethen wurde als Mädchen in Somalia beschnitten. Heute kämpft sie gegen das grausame Ritual.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Monika von der LindenBella Glinski steht in der Küche und kocht einen Tee. Ein passendes Getränk zum Eindunkeln an einem trüben Januartag. Die Somalierin hat einen langen Arbeitstag hinter sich. Sie betreut autistische Erwachsene in einer Einrichtung in der Stadt St. Gallen. Feierabend hat sie noch nicht. Ihr steht ein schweres, persönliches Gespräch bevor. Sie kennt die Reporterin nicht, mit der sie gleich reden wird. Anlass ist der Internationale Tag gegen Mädchenbeschneidung morgen Donnerstag, 6. Februar.Die Gastgeberin schafft eine angenehme Atmosphäre in ihrer Wohnung in St. Margrethen. Sie offeriert den Tee. Es ist nicht selbstverständlich, dass Bella Glinski einen Vorschuss an Vertrauen zu leisten vermag. Das Schicksal spielte ihr oft übel mit. Sie erlebte viele Tiefpunkte und gab doch nie auf. Immer wieder stand sie auf.Die Autorin fragt sich, ob es richtig ist, von Schicksal zu schreiben. Das Leid, das die junge Frau erfahren musste, wurde ihr absichtlich zugefügt. Es waren keine Krankheit, kein Unfall und auch keine Naturkatastrophe. Als Bella Glinski fünf Jahre alt war, wurde sie beschnitten. Ihre äusseren Geschlechtsorgane wurden verletzt, ohne dass es einen medizinischen Grund gegeben hätte.«Ich fühlte mich wie auf einem Abstellgleis»Ein Zeitsprung ins Jahr 2006. Bella Glinski war 16 Jahre alt. Sie fuhr mit ihrer 13-jährigen Schwester mit dem Zug in Zürich ein. «Alles, was ich verstand, war Ch Ch», sagt sie. «Wie soll ich diese Sprache lernen, dachte ich». Ein Jahr später kam Bella Glinski nach Au. Ihre jüngere Schwester wusste sie versorgt in einer Pflegefamilie. Im Frauenhaus für Asylsuchende teilte sie ein Zimmer mit einer Kirgisin, ihrer ersten Freundin in der Schweiz. «Es reichte mir nicht, das Nötigste zu haben. Ich fühlte mich wie auf einem Abstellgleis und wollte richtig Deutsch lernen.» Quartierschulen gab es seinerzeit noch nicht. Die Gemeinde Au hatte schlechte Erfahrungen mit Asylsuchenden gemacht. Einen Deutschkurs bezahlte sie darum nicht.400 Franken besass die Asylbewerberin. Das meiste davon gab sie für den Sprachkurs aus. Es blieb kaum Geld übrig für Kleider und Essen. Ein paar Nudeln mit Tomatensauce und eine Tüte mit Essen, die ihre Schwester am Wochenende brachte, mussten jeweils eine Woche lang reichen. «Dafür durfte ich Deutsch lernen.»Die 17-Jährige war auf sich allein gestellt und konnte sich kaum verständigen. Es plagten sie Kopfweh und Verzweiflung. Sie bekam Depressionen, nahm starke Medikamente und verlor den Lebensmut. «Ich wollte aufgeben und war parat zu gehen. Aber der liebe Gott hatte wohl andere Pläne mit mir», sagt die gläubige Frau.Ein Lied bedeutete die Wende«Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer.» Als Bella Glinski im Radio Xavier Naidoo diese Zeilen singen hörte, war das die Wende. «Dieser Weg ist für mich bestimmt. Ich gebe nicht auf.»Bella Glinski strauchelte oft und stand immer wieder auf. «Heute stehe ich mit beiden Füssen auf dem Boden», sagt sie. Sie kämpft für die Mädchen und Frauen, die für sich selbst nicht einstehen können, keine Stimme haben und Schutz bedürfen.» Die selbstbewusste Somalierin spricht von Frauen, die den Mut noch nicht gefasst haben. «Ich sage absichtlich noch nicht.» Jede Frau habe den Mut, müsse aber einen Anstoss erhalten. «Es bedarf nicht viel. Mir reichte ein Lied.»Jeden Tag und jede Nacht steht irgendwo ein Beschneidungsritual auf dem Plan. «Das Wissen darum gibt mir die Kraft, dazustehen und zu sagen: Das muss aufhören.» Der fünfjährigen Bella stand niemand zur Seite, niemand half ihr. Bekäme Bella Glinski eine Tochter, wäre auch sie gefährdet, beschnitten zu werden. In der Schweiz. Die Familie bildet in Somalia das stärkste Band. Irgendeine Frau in der Familie entscheidet für die Mutter. Gegen deren Willen. «Dieses Band hatte ich dreizehn Jahre lang gelöst.» Bella Glinski will ihre Meinung äussern und für ihre Freiheit einstehen. Erst als gestandene Frau konnte sie das Band neu knüpfen.Nachdem das Kind beschnitten worden war, nahm das Leid kein Ende. Die Mutter flüchtete nach Italien, liess fünf Kinder bei Verwandten zurück. Bella musste ihre Geschwister aufziehen, sie behüten. Selbst erlebte sie körperliche und seelische Gewalt, war Sklavin der eigenen Familie. Ende 2001 holte ihre Mutter sie mit zwei Geschwistern als Familiennachzug nach Italien. Italien änderte nichts. Die Mutter war des Schutzes nicht fähig, war selbst verzweifelt. «Ich musste mich in Sicherheit bringen und floh mit meiner Schwester in die Schweiz.»Aufklären und die Konfrontation suchen«Jetzt ist Schluss. Wir haben genug philosophiert», sagt Bella Glinski. Es gebe genug Politiker und Beauftragte, die sich mit dem Thema befassen, aber sie schliefen noch. «Die Beschneidungen müssen aufhören», formuliert sie ihren Appell. «Wir müssen aufklären, die Konfrontation suchen und die Männer mit ins Boot holen.» Väter hätten die Pflicht, ihre Töchter zu beschützen. «Sie nennen sich Familienoberhaupt und sollen so handeln. Väter sollten nicht Versorger ihrer Kinder sein, sondern sie vor dem grausamen Ritual beschützen.» Bella Glinski ist überzeugt, dass es nicht reicht, schärfere Gesetze zu beschliessen. Die Beauftragten sollen sich ausbilden lassen und ihre Aufgaben wahrnehmen. «Steht auf und arbeitet mit uns Seite an Seite. Die Mittel stehen zur Verfügung.»HinweisMorgen Donnerstag, 6. Februar, dem Internationalen Tag gegen Mädchenbeschneidung, strahlt SRF zwei Sendungen mit Bella Glinski aus. Sie wird in der Radiosendung «Treffpunkt» um 10 Uhr interviewt. Ein Porträt zeigt das Fernsehen in «10vor10». Das Musical «Wüstenblume» erzählt die Geschichte von Waris Dirie. Sie wurde mit fünf Jahren in Somalia beschnitten. Die Uraufführung ist am Samstag, 22. Februar, im Theater St. Gallen.

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