19.01.2021

Die Armut liess viele auswandern

In der Anfangszeit unserer Tageszeitung wurde mit Inseraten fürs Auswandern geworben.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Es wimmelte nur so von Inseraten, die zum Auswandern nach Nord- oder Südamerika und nach Australien ermunterten. Im Schweizerischen Bundesarchiv ist zu lesen, die Schweiz sei im 19. Jahrhundert zu einem eigentlichen Auswanderungsland geworden. Viele verliessen die Schweiz wegen der Armut. Die Wegziehenden wurden oft von Auswanderungsagenturen in Schweizerkolonien vermittelt.Vor 1800 war der Eintritt von Söldnern in fremde Armeen lange die bedeutendste Form der Auswanderung gewesen.Agent war montags im «Hörnli» anzutreffenIm «Bote am Rhein», einem Vorläufer der heutigen Tageszeitung «Der Rheintaler», bot am 17. Mai 1854 der im Mühlacker wohnhafte Altstätter J. U. Tobler eine Reise zum Auswandern an. Der «Spezialagent» nannte New York, Brasilien, Chile und Australien als mögliche Destinationen. Alle, die Interesse hatten, liess Tobler wissen: «In Werdenberg bin ich alle Montage im Gasthaus zum Hörnli zu treffen.»Am 11. Mai 1854 wurde vom Rorschacher Christian Schnetter («bevollmächtigter Generalagent») für die Auswanderungsreise über Hamburg nach New York geworben. Die Fahrt erfolgte «mit den eigens für die Personenbeförderung gebauten neuen schnellsegelnden Paketschiffen der Hamburg-Amerikanischen Paket-Fahrt-Aktiengesellschaft». Diese «werden jeden Monat zwei Mal und zwar regelmässig und zuverlässig am 1. und 15. expedirt».In dem «Passagepreis» war «volle Verköstigung inbegriffen». Es hiess: «Die Kost wird in gekochtem Zustande den Passagieren täglich drei Mal zu regelmässigen Stunden warm und in gehörigen Portionen verabreicht. Der Reisende hat daher für Proviant und Zubereitung der Speisen keine Sorge zu tragen.» Interessant ist auch der Hinweis, die Reise nach Hamburg erfordere von der Schweizergrenze aus je nach der Wahl der Route «nur zwei oder drei Tage».Für die pünktliche Erfüllung aller übernommenen Verpflichtungen haftete eine dem Hohen Senat von Hamburg gestellte Kaution von Zehntausend Thaler.Erst spät garantierte der Bund gewissen Schutz«Der Auswanderer», versprach das Inserat, «geniesst überdies in Hamburg für alle Fälle einen gesetzlichen Schutz, wie in keinem anderen Hafen Europas.» Alles und jedes, was auf die Auswandererexpedition Bezug habe, sei bis in die kleinsten Einzelheiten «durch strenge und neuerdings revidierte Gesetze einer eigens ernannten Behörde unterstellt».Im Schweizerischen Bundesarchiv ist festgehalten, dass der Bund sich bis in die 1870er-Jahre kaum mit der Auswanderung auseinandergesetzt habe. Erst mit den grossen Auswanderungswellen der 1880er-Jahre nach Übersee und in europäische Länder begann der Bund, die Auswanderung zu steuern. Zum Schutz der Auswanderinnen und Auswanderer erliess er 1880 ein Gesetz und setzte 1888 ein eidgenössisches Auswanderungsamt (1876 – 1953) ein, das die Tätigkeit der Auswanderungsagenturen überwachen sollte.Viele starben auf der langen ÜberfahrtViele Auswanderer überlebten die mehrwöchige Reise nicht. Ein Grund war die Cholera, der im 19. Jahrhundert Millionen von Menschen zum Opfer fielen, aber auch andere Krankheiten hatten zur Folge, dass ein Teil der Auswanderer die neue Heimat nie erreichte.Der bekannte Rapperswiler Xaver Suter, der dank eines Ladens für Haushalts- und Landwirtschaftsartikel in der Nähe von St. Louis (Missouri) als reicher Mann in die Schweiz zurückkehrte, notierte am 7. April 1849: «Mein Tagebuch gleicht bald einem Leichenanzeiger, denn schon muss es wieder den Tod zweier Personen melden.» Allein an Cholera starben bis zum Ende der Überfahrt 21 Menschen, wie das «St. Galler Tagblatt» am 19. März 2018 berichtete.«In Begleitung eines Arztes nach New York»So erstaunt es nicht, dass Generalagent Christian Schnetter auch mit der Gelegenheit warb, «in Begleitung eines Arztes von Rorschach bis New York» zu fahren. Schnetter betreute seine Kunden auf dem ersten Abschnitt der Reise teils auch selbst. In einem seiner Inserate heisst es: «Ich bringe hiermit zur Anzeige, dass ich am 26. Juni ab Rorschach persönlich eine Gesellschaft Auswanderer nach Hamburg begleite, welche sich daselbst am 1. Juli nach New York einschiffen wird.»[caption_left: In Begleitung eines Arztes nach New York: Die Überfahrten waren eine gefährliche Angelegenheit.]Die noch heute bestehenden Hamburger Passagierlisten gelten als einzigartige Quelle für die historisch-biografische Auswanderungsforschung. Enthalten sind Angaben zu fünf Millionen Menschen, die zu 80 Prozent in die USA auswanderten. In der Schweiz führten vor allem im Osten strukturelle Probleme und eine Ernährungskrise zwischen 1845 und 1850 zu einer Auswanderungswelle.In dieser Zeit – am 8. Oktober 1846 – entstand (zunächst unter anderem Namen) der «Rheintaler».Oft benötigten die Auswanderer, meist Taglöhner und Handwerker, die Unterstützung der Ortsgemeinden, die fürs Armenwesen zuständig waren. Manche waren so arm, dass sie nicht einmal über das Nötigste für die Reise verfügten. Die Gemeinde half nicht nur aus Nächstenliebe, sondern auch mit dem Gedanken, arme oder unliebsame Personen loszuwerden. Kein Wunder, wurde dieses Thema damals in der Presse heftig diskutiert.

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