30.01.2021

«Die aktuelle Lage ist für niemanden einfach»

Der Ambulante Psychiatrische Dienst des Spitalverbundes Appenzell Ausserhoden registriert wegen Corona eine Zunahme an Depressionen und Angstzuständen.

Von Interview: Rosa Schmitz
aktualisiert am 03.11.2022
Interview: Rosa SchmitzDie Coronakrise hat vielen Leuten das Leben erschwert. Selbstisolation, Arbeitslosigkeit, finanzieller Verlust – dies sind alles Dinge, die der psychischen Gesundheit schaden. Der Ambulante Psychiatrische Dienst in Appenzell Ausserrhoden vermerkt bereits seit dem ersten Lockdown eine Zunahme von Depressionen und Angstzuständen. Im Gespräch mit der «Appenzeller Zeitung» plädiert der Leitende Arzt Christian Eder dafür, dass Menschen mehr über ihre Probleme sprechen und ungeniert um psychiatrische Unterstützung anfragen sollen.Sehen Sie seit Beginn der Coronakrise eine Zunahme an Anfragen für psychiatrische Dienste?Christian Eder: Ja, die Anzahl an Patienten des Ambulanten Psychiatrischen Dienstes hat deutlich zugenommen. Zwar ist es schwer zu sagen, um wie viel genau. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass wir derzeit ein Viertel bis ein Drittel mehr Anfragen kriegen.Woran liegt das?Die Coronakrise – und die verschiedenen Nöte, die damit verbunden sind – sind eindeutig ein Grund für diesen Aufwärtstrend. Die Selbstisolation während des ersten und zweiten Lockdowns ist für die meisten Menschen wahrscheinlich das Schwierigste.»Entwickeln Menschen wegen der Coronakrise tatsächlich mehr psychische Probleme oder sehen sie sich gezwungen, sich mehr mit ihren existierenden Problemen auseinanderzusetzen?Beides.Wer leidet unter was?Nun, es sind alle Altersgruppen betroffen. Die Dinge, die sie krank machen, sind anders. Aber die Schlussfolgerung ist dieselbe. Wir vermerken vor allem eine Zunahme an Depressionen und Angstzuständen. Aber auch Burn-out ist ein Thema. Zwangsstörungen.Gibt es bestimmte psychische Krankheiten, die öfters auftreten?Neben Depressionen und Angstzuständen gibt es auch Menschen, die vermehrt unter Wahnvorstellungen leiden. Also: eine unangemessene und falsche Interpretation der Umwelt, auf der die Betroffenen beharren.Wer ist derzeit besonders gefährdet?Diejenigen, die eh schon vulnerabel sind. Ältere Menschen. Alleinerziehende Eltern. Frontarbeiter. Sie alle sind auch zu «normalen Zeiten» schwierigen Situationen ausgesetzt. Wir versuchen, sie aus diesem Grund zu priorisieren und ihnen so schnell wie möglich einen Termin zu verschaffen. Auch Ärzte und Pflegepersonal, die alles aus erster Hand mitkriegen und daher stark belastet sind.Was kann man dagegen machen?Ich empfehle allen, die zu mir kommen, jede Gelegenheit zu nutzen, beschäftigt zu bleiben und mit ihren geliebten Menschen in Kontakt zu bleiben. Sowie aus dem Haus zu gehen und Sport zu treiben. Darüber hinaus denke ich, ist es wichtig, über unsere Probleme zu sprechen. Die aktuelle Lage ist für keinen einfach. Mir steht’s auch bis zum Hals. Das ist kein Zeichen von Schwäche.Welche Hilfsangebote stehen Menschen mit psychischen Problemen derzeit zur Verfügung?Es gibt einiges. Der Ambulante Psychiatrische Dienst, zum einen, ist wieder voll ausgelastet. Wir haben eine Reihe von Sicherheitsmassnahmen implementiert, um Patienten sicherer vor Ort zu empfangen. Wir haben unser Angebot auf Skype- und Zoom-Anrufe ausgeweitet. Und wir haben eine wöchentliche Hotline eingerichtet, über die Patienten kurzfristig Termine vereinbaren und Notfallberatung erhalten können.Reicht das?Ich denke, das Wichtigste im Moment ist zu kommunizieren, dass Anlaufstellen wie diese existieren und dass es in Ordnung ist, sie zu nutzen. Aber natürlich: Irgendwann wird es eine Frage der Kapazitäten sein. Unsere Ressourcen sind begrenzt. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass andere Angebote – sowie staatliche Programme – weiterhin bestehen.Waren die Kurz- sowie Lang-zeitfolgen der Coronakrise auf die menschliche Psyche vorhersehbar?Ja. Experten warnten immer wieder davor. Schon zu Beginn des ersten Lockdowns.Wurden genügend Mass-nahmen ergriffen, um sich darauf vorzubereiten?Ich glaube schon. Meiner Meinung nach hat die Regierung schnell reagiert. Aber es war keine einfache Situation. Die Coronakrise hat alle unvorbereitet getroffen. Spitäler mussten alle nicht als Notfall bedingten chirurgischen Eingriffe absagen oder verschieben. Ärzte durften nur unter bestimmten Umständen Patienten sehen – dazu nur eine begrenzte Anzahl. Es hat eine Weile gebraucht, uns neu zu organisieren. Aber ich denke, wir waren jetzt viel besser auf diesen Lockdown vorbereitet als auf den ersten.Wie steht der Ambulante Psychiatrische Dienst jetzt da?Gut. Aber: Ich denke auch, dass die Patientenzahlen weiter steigen werden. Damit werden wir uns irgendwann befassen müssen. Im Moment bekommen viele Menschen finanzielle Unterstützung von der Regierung. Wenn diese Fonds austrocknen, glaube ich, wird es einige Menschen geben, die vor dem Ruin stehen. Die Coronakrise wird uns also noch eine ganze Weile beschäftigen. Psychische Erkrankungen geraten in den FokusSeit 2014 besteht die Kampagne «Wie geht’s dir?». Und Appenzell Ausserrhoden ist durch die Mitgliedschaft im Ostschweizer Forum für Psychische Gesundheit (OFPG) seit Anfang an mit dabei.Gemäss Markus Meitz, Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung Appenzell Ausserrhoden und Ansprechperson für «Wie geht’s dir?», kommt die Kampagne gut an. «Sie macht Mut, um über psychische Belastungen und Erkrankungen zu sprechen.» Vor allem seit der Coronazeit hat das Thema «Psychische Gesundheit» stark an Bedeutung gewonnen. Meitz weiter: «Social Distancing, Infektionsangst, wirtschaftliche Sorgen, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Homeoffice und die Massnahmen zur Eindämmung des Virus sind für alle Altersstufen eine enorme Herausforderung.»Gemäss einer kürzlich veröffentlichten Studie des Bundesamtes für Gesundheit BAG sind alleinlebende oder isolierte Personen besonders gefährdet. Wie hoch der Anstieg zusätzlich Erkrankter tatsächlich ist, weiss Meitz jedoch nicht. Die Abteilung Gesundheitsförderung führt kein Monitoring zu dieser Entwicklung. Ein Austausch mit der Schweizerischen Stiftung Pro Mente Sana habe aber gezeigt, dass die psychosozialen Beratungsanfragen während der Coronazeit etwa um 30 Prozent zugenommen haben.«Wie geht’s dir?» will Auswege aus der persönlichen Krise aufzeigen. Auf der Website finden sich Gesprächstipps, Adressen mit Ansprechpartnern und Informationen zur Kampagne. Parallel dazu wird eine App angeboten. Diese bietet ein sogenanntes «Emotionen-ABC» an. Je nach Emotionen finden sich dort unterschiedliche Hilfestellungen. Unter «H» steht beispielsweise «Hilflos». Wer sich so fühlt, findet Anregungen und Tipps, um dieses spezifische Gefühl zu lindern. Markus Meitz findet das «Emotionen-ABC» äusserst hilfreich. Intern im Team bei Sitzungen wie auch bei Suchtberatungsgesprächen habe das «Emotionen-Plakat» ebenfalls schon Verwendung gefunden.Download-Zahlen liegen noch nicht vorWie oft die App bereits heruntergeladen wurde, kann Meitz auf Anfrage hin nicht sagen. Die Zahlen würden noch ausgewertet und liegen erst in rund zwei Wochen vor. Dass das Angebot aber auf reges Interesse stösst, davon ist der Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung überzeugt.Das zeige auch ein Blick auf die Bestelldaten beim Ostschweizer Forum für Psychische Gesundheit. Dort können nämlich Materialien der Kampagne gratis bestellt werden. Einerseits gebe es eine hohe Nachfrage nach einzelnen Buchstaben des «Emotionen-ABC», andererseits eine solche nach Flyern mit Gesprächstipps für Führungskräfte, Arbeitnehmende und Familien.Aktionstage im Rahmen der Kampagne sind demnächst nicht geplant. Sie soll aber weiterentwickelt werden. Eventuell kämen sogar neue Produkte hinzu. Doch bis es so weit ist, sind andere Aktivitäten in Planung. So prüft das Amt für Gesundheit derzeit, ob die Broschüre «Ich heb mir Sorg!» vom Ostschweizer Forum für Psychische Gesundheit bei den zwei Impfzentren in Herisau und Heiden aufgelegt werden soll. Zudem will sich der Kanton künftig vermehrt auf die Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen fokussieren. Die Abteilung Gesundheitsförderung Appenzell Ausserrhoden stellt dazu im Frühling den relevanten Zielgruppen neue Informationsmaterialien der ZHAW «Take care» zu.Astrid Zysset

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