22.04.2022

Der Zweifel ist «der kleine Bruder des Glaubens»

Von Reinhard Paulzen
aktualisiert am 02.11.2022
Ein lieber alter Bekannter begegnet uns aufs Neue, wenn wir an diesem Sonntag in der Kirche die Geschichte von Jesus, dem Auferstandenen, hören: Thomas, der Zweifler, vielleicht eine der beliebtesten Gestalten aus der Bibel, weil er zweifeln darf. Jesus hat keine Probleme mit dem Zweifeln und mit Thomas. Im Gegenteil, er hat Geduld, Verständnis, und auf liebevolle Art befreit Jesus ihn von seinem Zweifel.Es gibt den intellektuellen und den existenziellen Zweifel. Dieser kommt aus der erlebten Erfahrung heraus: aus schlimmer Not, Krankheit, Krieg, Unglück, dunkler Verzweiflung – Israel in Ägypten, Jesus im Garten Gethsemane, Bomben in der Ukraine, Warschauer Ghetto. Der existenzielle Zweifel verlangt unseren grössten Respekt.Als ich als junger Student nach Bonn fuhr, sagten die Leute zu mir: «Über Gott darfst du gar nicht viel nachdenken! Sonst fängst du nur an zu zweifeln!» Aber ich war froh, dass wir als Christen niemals unsern Verstand «an der Garderobe abgeben» müssen. Unser Verstand ist eine gute Gabe Gottes, wir dürfen und sollen ihn benutzen! Wenn mein Glaube das nicht aushalten würde, dann würde ich ihn lieber heute als morgen loswerden. Dann ist er wertlos und taugt zu nichts.Der Zweifel ist «der kleine Bruder des Glaubens». Für René Descartes war es sein Aha-Erlebnis: Der Zweifel hat ihn zur langersehnten Gewissheit und wieder neu zu Gott geführt: «Ich denke. Also: ich bin.» Also: Gott ist. Hoffentlich gab es für Descartes auch ganz viel zum Staunen und ganz viel Gottesfreude dabei! Während Descartes von La-Flèche aus in die Welt hi-nauszog, betrachtete das Mathematikgenie Blaise Pascal in Port-Royal den Zweifel wie eine Wette: «Es muss gewettet werden, das ist nicht freiwillig, ihr seid einmal im Spiel. Was wollt ihr also wählen? … Ihr habt zwei Dinge zu verlieren und zwei Dinge zu gewinnen … Wir wollen abwägen … setze du aufs Glauben, wenn du gewinnst, gewinnst du alles, wenn du verlierst, verlierst du nichts. Glaube also, wenn du kannst.» Für Pascal zählt die Logik der Liebe: «Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt.»Aktuell haben Louise Bourgeois und Jenny Holzer mit ihrer Lichtinstallation an der Alten Universität in Basel den Zweifel und Descartes Gedanken neu umgesetzt: «You hope so you are crazy.» Du hoffst. Also: Du bist verrückt. Die Arbeit dieser beiden Künstlerinnen gefällt mir. Da möchte ich mit der Kraft Gottes gern noch ein bisschen mehr verrückt werden. Verrückt nach Zuversicht und Hoffnung.Reinhard PaulzenPastoralassistent in Heerbrugg

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.