24.08.2021

Der Tigelberg ist wieder belebt

Der soziale Geist bleibt erhalten im ehemaligen Jugendheim ob Berneck. Eine Grossfamilie betreut Pflegekinder.

Von Hildegard Bickel
aktualisiert am 03.11.2022
Hildegard BickelEin fünfjähriger Bub und ein dreijähriges Mädchen spielen im Garten. Ihre Stimmen und die zarte Melodie eines Klangspiels im Hauseingang verschmelzen zu einer friedvollen Geräuschkulisse. Betreut werden die Kinder von Pflegemutter Sabine Glaser und ihrem Partner Adrian Müller, der als Berater und Erwachsenenbildner tätig ist. Sie wohnen seit März 2020 im Tigelberg, dem Haus, das bis 2018 als sozialpädagogische Institution für Jugendliche diente. Die zu geringe Auslastung und veränderte Bedingungen bei der Platzierung von Jugendlichen führten zur Stilllegung des Betriebs. Sabine Glaser entdeckte die online ausgeschriebene Liegenschaft auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Ein unerreichbares Traumobjekt, so ihr erster Gedanke, doch schon bald kam es zu Verhandlungen. Der Verein Tigelberg bemühte sich darum, das Haus weiterhin einem sozialen Zweck zuzuführen. «Wir waren sehr glücklich über das Interesse von Sabine Glaser und Adrian Müller», sagt Dorothea Appenzeller, langjährige Präsidentin des Vereins, die Anfang August zurückgetreten ist. Das Amt hat Vorstandsmitglied Christof Schmid übernommen. Der Verein ist im Besitz der Liegenschaft und kümmert sich um den Erhalt sowie die Verwaltung. Kindern ein Daheim geben Sabine Glaser, gebürtige Steirerin, Mutter von drei erwachsenen Söhnen und diplomierte Tagesmutter/Nanny SRK, betreute in Widnau mehrere Jahre Tageskinder. Zeitgleich mit dem Umzug in den Tigelberg begann auch die Pandemie und die Bedingungen in der Kinderbetreuung waren erschwert. Als im August 2020 das dreijährige Mädchen für einen langfristigen Aufenthalt zur Familie stiess, waren sich Sabine Glaser und Adrian Müller einig, sich auf die Betreuung der zwei Kinder zu beschränken. Dies, obwohl es mittlerweile an Anfragen für Tagesbetreuungen nicht mehr mangle, vor allem die Betreuung von Babys sei gefragt. Doch der fünfjährige Bub geht nun in den Kindergarten und wird auf dem Weg ins Dorf begleitet. Weniger Kinder bedeuten in diesem Fall mehr Flexibilität. Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb die Pflegeeltern Kapazitäten freihalten möchten. Sie stehen für Notaufnahmen zur Verfügung. Ist es nötig, kurzfristig ein Kind in die Obhut einer Pflegefamilie zu geben, kann das Telefon auch im Tigelberg klingeln.Begleitet, beraten und unterstützt wird die Pflegefamilie in ihrer Arbeit durch Bussola Krisenintervention in Wil, eine Organisation für Dienstleistungsangebote in der Familienpflege (DAF). Es finden regelmässige Gespräche und Besuche statt, und die Familie und die Pflegekinder haben bei Fragen, Anliegen und in Krisensituationen durchgehend Zugang zu den Fachmitarbeitenden von Bussola. Die Pflegekinder stammen aus schwierigen Verhältnissen –unter anderem wegen Krankheit, Drogen, Missbrauch oder Vernachlässigung – und manchmal haben die Kinder auch spezielle Bedürfnisse, welche die Ressourcen der Eltern überschreiten. Diese Hintergründe können zu Herausforderungen in der Betreuung führen. Kinder zeigten oft Wut gegenüber Erwachsenen, sagt Adrian Müller. «Sie suchen verstärkt Grenzen. Wir sind da, um Sicherheit und Struktur zu bieten, damit sie Vertrauen aufbauen können.» Sabine Glaser ergänzt: «Liebe und Nähe sind sehr wichtig.» Gleichzeitig sind sie sich der zeitlich begrenzten Beziehung bewusst. Wenn Eltern wieder in der Lage sind, für ihre Kinder zu sorgen, ist eine Rückführung möglich. Auch können die Kinder je nach Situation einen Teil der Wochenenden bei den Eltern verbringen. Zu einer Grossfamilie zusammenwachsenZu den weiteren Mitbewohnenden im Tigelberg gehört eine Jugendliche, die ebenfalls durch Bussola begleitet wird und eine Lehre absolviert. Auch die Schwester und der Neffe von Sabine Glaser wohnen im Haus, wie auch zwei ihrer eigenen Söhne. Zudem kommen die Söhne von Adrian Müller jedes zweite Wochenende zu Besuch. Allen gefällt die Idee des Mehrgenerationenhauses. Sie können sich auch vorstellen, eine Person im Seniorenalter im Haus aufzunehmen. Ein freies Zimmer ist ausgeschrieben. Man trifft sich zu gemeinsamen Mahlzeiten oder auf dem neu gestalteten Sitzplatz. Umschwung ist genug vorhanden mit gepflegten Gartenbeeten.Sabine Glaser und Adrian Müller erleben auch, wie die Geschichte des markanten Hauses am Waldrand oberhalb Berneck interessiert und zu spontanen Begegnungen führt. Es seien schon ehemalige Bewohnende des früheren Jugendheims vorbeigekommen und hätten gefragt, ob sie einen Blick in den Garten werfen dürfen. Einheimische werden sich vielleicht an Familie Coulin erinnern, die den Tigelberg von 1998 bis 2015 in einer ähnlichen Lebensform wie die jetzige Grossfamilie bewohnte, mit eigenen und Pflegekindern. «Wir empfinden es als Privileg, hier zu leben und das Grundstück nutzen zu dürfen», sagt Adrian Müller.

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