11.06.2020

Der Test: Benzinauto gegen Elektrovelo

E-Bikes boomen und werden zunehmend als Nahverkehrsmittel für Pendler entdeckt. Umweltschonender als ein Benzinauto ist das Stromvelo auf dem Weg zur Arbeit bestimmt – doch ist es auch schneller? Wir machten den Selbststest.

Von rew/rü
aktualisiert am 03.11.2022
Wir liessen unser Redaktionsauto gegen ein E-Bike antreten, das eine Maximalgeschwindigkeit von 45 km/h unterstützt. Start war kurz vor Mittag im Bernecker Industriegebiet, als Ziel legten wir den Altstätter Rathausplatz fest. In die Pedale trat Reto Wälter, am Steuer sass Redaktionskollege Andreas Rüdisüli.Die Teststrecke aus der Sicht des Velofahrers:Super, dass der Velounterstand praktisch neben der Eingangstüre liegt, im Gegensatz zum weiter entfernten Autoparkplatz. So kann ich mich gleich an die Spitze setzen. Schon beim ersten Fussgängerstreifen einige Meter nach dem Start werde ich von zwei kleinen Schulmädchen eingebremst, die ihn überqueren wollen. Im ungewohnten aber praktischen Rückspiegel ist kein Gegner in Sicht. Beim Beschleunigen komme ich mir vor wie ein Held mit Superkräften – ich fahre oft Velo, sitze aber erst das zweite Mal auf einem 45- km/h-E-Bike. Auf der langen geraden 80er-Strecke von Berneck nach Heerbrugg kommt bei tränenden Augen die Erkenntnis, dass bei dem permanent hohen Tempo eine Sportbrille wohl nicht die dümmste Idee gewesen wäre – was mir beim wolkenverhangenen Himmel nicht in den Sinn gekommen ist. Die Ampel an der Kreuzung in Heerbrugg steht auf Rot, ich rolle an zwei Autos vorbei auf die Pole-Position. Nach 15 Sekunden geht es weiter, Vollgas, resp. Vollstrom, mit 45 km/h bei Grünlicht am Coop vorbei. Kaum um die Kurve, wechselt dafür die nächste Ampel am Abzweiger nach Widnau auf Orange: Ich gebe alles, presche gerade noch im legalen Bereich durch – mit 49 km/h und darum mit reiner Muskelkraft, denn über 45 stellt der Stromer, so der Name meines Rennpferdchens, seine elektrische Hilfe ein. Erneut werde ich eingebremst von einer Baustellenampel Höhe Leica. Stets aus der Pole-PositionWieder starte ich von zuvorderst, den Redaktions-Peugeot sehe ich nirgends. Durch Balgach überholen mich die PWs, ich halte die 45 km/h und frage mich das erste Mal, ob mir wirklich die Ehre gebührt, als Vertreter der E-Biker die Tauglichkeit dieses Nahverkehrsmittels unter Beweis zu stellen: Ich atme schwer, der Puls ist hoch, auch maximal elektrisch unterstützt, muss ich gehörig pedalen, spüre die Beine, als es gegen Rebstein leicht ansteigt. Aber ich bin in Front, gleich schnell wie die Autos und kann den Vorsprung Ende Dorf ausbauen, als der Bus vor mir anhält und die Vierrädrigen wegen der Verkehrsinsel  anhalten müssen. Im Aufstieg gegen Marbach bremst mich ein von einem Parkplatz einfahrenden Lieferwagen auf 20 km/h ab: Er sah mich, schaute auf den Gegenverkehr und fuhr ein – unterschätzte wohl meine Geschwindigkeit. Nach Marbach wieder ein Bremsmanöver: Ein Lenker hinter einem nach links abbiegenden PW weicht nach rechts aus und hätte mich weggedrückt, wäre ich auf Maximalgeschwindigkeit geblieben.  Der Nabenmotor schiebt unüberholbar Richtung SiegDer einsetzende Regen stört mich nicht, denn er kühlt und lindert auch meinen Frust, als mich der Redaktions-Peugeot in Lüchingen doch noch einholt. Die Mundwinkel wandern dann zügig von Kinn Richtung Wangen, als in Altstätten auf Höhe RHV eine Baustellenampel auftaucht, die auf Rot steht. Mit hohlem Kreuz rolle ich an all den Autos und als Krönung an meinem Kontrahenten gemütlich vorbei – kann dabei den Komfort der bestens federnden 2,1-Zoll- Ballonreifen auf der aufgerissenen Strasse bewusst geniessen. Ich weiss schon jetzt, der 500- Watt-Nabenmotor im Hinterrad wird mich wie ein alter amerikanischer Sportschlitten Richtung Rathausplatz schieben – unüberholbar. So ist es: Ankunft 12.04 Uhr, Sieg und die Erkenntnis, dass ein E-Bike beim Weg durch die Dörfer eine Alternative ist, selbst wenn man nicht durchgeschwitzt ankommen will. (Reto Wälter)Die Fahrt aus der Sicht des Autolenkers:Der Start misslingt. Während sich der Kollege elegant aufs Velo schwingt, haste ich im Regen über den Parkplatz und suche den Redaktions-Peugeot. Klick, öffnen, einsteigen, Stoppuhr nicht vergessen – es geht los. Die 200 PS des GTI-Gefährts, vor denen sich Kollege Wälter  so fürchtet, kann ich zwischen Berneck und Altstätten selbstverständlich nie auch nur annähernd ausnutzen. Wir halten uns schliesslich an die Verkehrsregeln. Mit unserem alten Redaktions-Smart hätte ich wohl nicht schlechter abgeschnitten.Menschen in kleinen grünen Autos Ich brumme endlich los, auf der 80er-Strecke zwischen Berneck und Heerbrugg taucht das E-Bike zum ersten Mal vor mir auf. An der Kreuzung hole ich den Radler ein. Klare Sache, denke ich; der sieht mich nie wieder! Doch schon an dieser ersten Ampel wird mir der immense Vorteil des E-Bikers klar. Während ich weit hinten in der Autoschlange stehe, setzt sich Kollege Wälter an die Spitze der Kolonne und braust bei Grün los, bevor ich auch nur den Motor starte.Ich zuckle durch die Dörfer. Überholen ist auf dieser Strecke um die Mittagszeit ausgeschlossen. Durch Balgach folge ich darum mehr oder weniger geduldig eher älteren Menschen in kleinen grünen Autos, die sich mit E-Bike-Geschwindigkeit bewegen. Ich denke an die 200 PS.Trotz all der Ampeln und Baustellen bin ich mit einem Lächeln auf den Lippen unterwegs; selbst im Mittagsverkehr fährt es sich im Rheintal entspannt, aus den Boxen dudelt Radio Irgendwas. Wäre vor mir nicht ein E-Bike, das es einzuholen gilt, könnte ich die Fahrt sogar geniessen. Kollege Wälter hingegen scheint sich nicht zu amüsieren. Bei unseren wenigen Begegnungen unterwegs blickt er grimmig geradeaus, wirkt abgekämpft und verschwitzt. Selten habe ich jemanden auf einem E-Bike so leiden sehen.Als ginge es hinauf nach Alpe d’HuezZwischen Marbach und Lüchingen – das E-Bike liegt noch immer deutlich vor mir – beginne ich mich dann doch etwas zu ärgern. Die Kolleginnen und Kollegen auf der Redaktion zweifelten nicht eine Sekunde daran, dass ich als Erster in Altstätten sein würde. Und jetzt das: mindestens eine Minute Rückstand. Das Städtli kommt immer näher. Auf der langen Gerade hole ich auf. Der leichte Anstieg kurz nach Lüchingen bringt dann die vermeintliche Vorentscheidung. Wälter scheint einzubrechen, ich ziehe locker an ihm vorbei, sein Gesicht wirkt im Regen grau. Vor mir ist niemand, das Städtli keinen Kilometer mehr entfernt. Doch plötzlich: eine Baustelle, die ich vergessen habe. Die Ampel leuchtet rot.Links an mir vorbei flitzt das E-Bike, setzt sich an die Spitze der Kolonne. Ich bin Fünfter oder Sechster. Während mein Konkurrent bei Grün losstürmt, als gälte es die Alpe d’Huez zu bezwingen, verschläft der vorderste Fahrer den Start. Klar: das Rennen ist gelaufen. Vor dem Rathaus hängt mein Konkurrent über seinem E-Bike. Als fairer Sportsmann gratuliere ich ihm. Nicht per Handschlag natürlich, sondern hygienetechnisch korrekt per Kopfnicken.Es ist also möglich: Ein E-Bike kann schneller von Berneck nach Altstätten fahren als ein Auto. Doch die Voraussetzungen müssen stimmen. Möglichst viele Ampeln und Baustellen sollten den Autofahrer ausbremsen. Der Velofahrer muss zudem fit und angstfrei sein. Entspannter in die Mittagspause, das steht fest, geht der Autofahrer. (Andreas Rüdisüli)

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