06.05.2022

Der Schweizer Maradona

Davide Chiumiento galt als Jahrhunderttalent, mit 19 debütierte er für Juventus. Nun wohnt er wieder in Heiden und unterrichtet Kinder.

Von Christian Brägger
aktualisiert am 02.11.2022
In Heiden endet die Geschichte, mit zwölf Koffern Gepäck. Hier, wo alles begann. Und die Fussball-Aficionados aus der Region davon sprachen, dass sich in der Nähe ein kleiner, wahnsinnig begabter Bub auf den Fussballplätzen tummelt und den Ball behandelt, ja streichelt gar, wie man das noch nicht gesehen hat. Der Name: Davide Chiumiento, früh ein Sehnsuchtsspieler. Bald ein Unverstandener – und etwas aus der Zeit gefallen.Spätestens mit 19 galt der «kleine» Chiumiento als Jahrhunderttalent. Als Schweizer Maradona, der allein das Eintrittsgeld wert ist. Er lebte seinen Traum und spielte für Serienmeister Juventus, «la vecchia signora», die alte, etwas divenhafte Dame. 13 Profijahre später erhielt Chiumiento vom FC Zürich keinen Vertrag mehr und trat still und leise zurück. Nach dem Rückzug begann ein zweites, erfülltes Leben in der Nähe Vancouvers. Mit Kindern, die er sein Fussballspiel lehrte; Kanadier lieben es, ihre Kleinen im Umgang mit dem Ball von Ex-Profis schulen zu lassen.Er wollte nie gross reden, er wollte einfach nur spielenLange war es still um Davide Chiumiento, die Öffentlichkeit hatte das Interesse verloren. Umgekehrt hatte er es nie wirklich gehabt. Er wollte stets einfach nur Fussball spielen. Wollte nie gross reden, weil die Vergangenheit bleiben sollte, wo sie hingehört. Aber funktioniert das, oder holt sie einen irgendwann ein? Es ist auch so eine Frage, die einen Fussballer begleitet: Wo leben nach der Karriere, wo ist sein Zuhause? Nur schon, weil die Eltern, eine Sizilianerin und ein Kampanier, bis heute in Heiden wohnen, war es für Chiumiento immer ein Kraftort, eine Säule im Leben. Das bei einem, der viel gesehen hat von der Welt. Viel erlebt hat im Fussball, nach dessen Normen er längst nicht weiter leben mag, dieses Getaktete, das nie wirklich seins war. Auch wegen der Liebe zur italienischen Küche hat er ein paar Kilogramm zu viel auf den Rippen.Mit neun Jahren spielte der Bub als Zehner bereits bei den Junioren des FC St. Gallen, nach einem internationalen Turnier in Frankreich luden Scouts von Juventus den Appenzeller, im Herzen ein Italiener, ein ins Probetraining. Schon damals tummelten sich Berater an den Spielfeldrändern, die «auf das grosse Geld hoffen und Verkäufer spielen. Viel zu früh ist das», sagt Chiumiento, der sich für Giacomo Petralito entschied. Es war nicht der beste Entscheid, weil «Petralito nur das Geld zählen wollte». In Turin angekommen, gab es sogleich ein Testspiel, Gian Piero Gasperini, heute Chefcoach von Atalanta, war damals Übungsleiter im Nachwuchs. Eine Halbzeit hatte ihm gereicht, er hatte genug gesehen. Man beorderte den Vater, den Berater und den jungen Davide umgehend ins Büro von Luciano Moggi, dem umtriebigen Mastermind der Juve, damals der härteste Hund im italienischen Fussball, später verurteilt und verstossen wegen Manipulationen von Spielern und Spielen: «Wir machen einen Dreijahreskontrakt und im Anschluss einen Zweijahresvertrag. Unterschreib!»Schlecht war dieser Kontrakt justiert, doch das merkte die Familie erst später, dazu kamen die Drohgebärden Moggis, und Chiumiento sagt: «Was hätten wir tun sollen? Es war die Juve, mein Traumklub! Wir waren naiv und wussten ja nicht, wie falsch Leute in diesem Business sein können. Zudem spielte ich Fussball aus Passion, nicht um viel Geld zu verdienen und so viele Followers wie möglich zu haben wie die Jungen von heute.» Statt der Lehrstellensuche im Appenzellerland folgte ein Leben im Internat beim Rekordmeister, morgens Schule, nachmittags Fussball, Bettruhe um 22 Uhr. Kinder aus Frankreich oder Afrika waren da, vom Klub verantwortungsvoll durchgedacht waren ihre Karrieren nie. Als das renommierteste Jugendturnier in Italien, «il Torneo di Viareggio», 2003 und 2004 stattfand, war Chiumiento der Jüngste, die Juve gewann es beide Male, 2004 wurde er «Spieler des Turniers». Wie zehn Jahre zuvor ein gewisser Alessandro Del Piero. Ganze Titelseiten bei «Tuttosport» und der «Gazzetta dello Sport» folgten, «der nächste Del Piero» schrieben sie, oder «ein neuer Stern am italienischen Fussballhimmel».Nach dem Turnier kam der Hochbegabte mit 19 Jahren sofort in die erste Mannschaft. Beim Début Ende Februar 2004 wechselte ihn Trainer Marcello Lippi gegen Ancona ausgerechnet für Del Piero ein – wie kitschig. Tage später ersetzte Chiumiento im Achtelfinal der Champions League gegen Deportivo La Coruña mit Mauro Camoranesi die nächste Juve-Legende. «Für mich war das ein natürlicher Weg, ich genoss meinen Fussball und machte mir keine Gedanken. Ich kannte meine Qualitäten.» Nationaltrainer Giovanni Trapattoni sah den Jungen schon in der Squadra Azzurra, Paolo Rossi, Sturmlegende der Weltmeisterelf 1982, sprach von einem «Phänomen», Lippi von einem «Genie».Alles kommt zusammen – die Verbände buhlenDas Schweizer Fernsehen karrte mit seinen Übertragungswagen ins Bel Paese hinunter, Schweizer Journalisten ebenso, die nationalen Verbände stritten sich um den Doppelbürger. Die U21-EM spielte Chiumiento noch für die Schweiz, das Herz, die Emotionen, sie waren für Italien, wer konnte es ihm verdenken. Also schlug er das Aufgebot von Trainer Köbi Kuhn für die EM 2004 mit der Schweizer A-Nationalmannschaft aus, rückblickend sei das ein Fehler gewesen, sagt der heute 37-Jährige. Weil Entscheide, und sind sie noch so schwierig, aus Emotionen, aus Stolz oder Frust heraus immer falsch seien. Parallel machte Moggi, nachdem er die Gegenpartei drei Stunden lang hatte warten lassen, riesigen Druck für den nächsten Vertrag und stritt während der Verhandlungen mit Berater Petralito, welcher nach dem Leitsatz handelte: «Was nichts kostet, hat keinen Wert.» Dennoch kam es zum langfristigen Kontrakt, abermals nicht marktgerecht. Und mit vielen Versprechungen, die Moggi später niemals einhalten sollte.So fing alles an. Aber so ging es bei Juve nicht weiter. Chiumiento sagt: «Ich war eines der grössten Talente im Verein, aber es gab keinen Plan mit mir, dafür das Preisschild von fünf Millionen. So war ich kaum vermittelbar, die Türen gingen zu.» Es folgten bis 2007 von beiden Parteien nicht fertig gedachte Leihgeschäfte zu Siena, Le Mans und YB, und Juve verdiente mit. «Leihgeschäfte sind schwierig. Es ist nicht dasselbe Feeling, wenn man nicht dem Klub gehört», sagt Chiumiento, der sich damals oft einsam fühlte. Mit dem definitiven Übertritt zu Luzern akzeptierte der Fussballer den Neuanfang und war in der Zentralschweiz so gut, dass er 2010 unter Trainer Ottmar Hitzfeld im selben Spiel wie Xherdan Shaqiri für die Schweiz debütierte; es blieb bei diesem einzigen Einsatz gegen Uruguay.Es folgte der Abstecher nach Übersee, zu den Vancouver Whitecaps, wo Chiumiento nach einem Tor als «The Swiss Ronaldinho» betitelt wurde und auf Eric Hassli traf, ein Bruder im Geiste, ebenso hochveranlagt, doch ohne Fortune im Fussballgeschäft. In Vancouver und der athletischen Major League Soccer fand Chiumiento sein Lachen wieder und mit der Chilenin Christina sein privates Glück. Zwei Jahre später kehrte er für den FC Zürich in die Schweiz zurück, wo es fast nochmals in die Nati reichte, weil er richtig gut war. Sein Mitspieler? Yassine Chikhaoui, der im Fussball ebenfalls immer Sehnsüchte weckte. Mit Coach Sami Hyypiä gab es im letzten Vertragsjahr kilometerlange Waldläufe, da dieser, wie früher andere Trainer, mangelnde Fitness ausmachte. Und obwohl der erklärte Lieblingsspieler von Präsident Ancillo Canepa, trennte sich Zürich im Sommer 2017 von Chiumiento. Dieser versuchte es nochmals in Vancouver, wo es ihm so gut gefallen und er Bären in der Wildnis gesehen hatte. Einen letzten Vertrag gab es nicht, dafür bald das Bedürfnis, mit Kindern zu arbeiten.Seit November ist die Familie Chiumiento aus Kanada zurück, mit zwölf Koffern Gepäck. Nun ist es Davide, der mit seinen zwei Töchtern dem achtjährigen Diego – der Sohn musste so heissen – beim Fussballspiel zuschaut. Der Bub kann bereits 1000-mal jonglieren, aber was heisst das schon. Über Chiumiento wurde viel geschrieben, er sagt: «Es ist vorbei. Was wäre, wenn, gibt es für mich nicht. Doch wie alles begann, kann ich nicht sagen, dass es gut gekommen ist. Es lag einzig an mir, es hat etwas gefehlt, Reife, Mentalität, eine klare Karriereplanung und ein Berater, der Klartext geredet hätte. Der mich körperlich oder mental gepusht hätte. Zudem nahm ich Dinge oft persönlich, verlor den Fokus, dachte zu viel nach, zweifelte. Wenn mein Kopf nicht frei ist, ist meine Magie des Fussballs weg.»Die eigene Fussballschule, um wieder Zehner zu sehenVon Statistiken hält Chiumiento wenig, von GPS-Daten mit vermessenen Höchstgeschwindigkeiten und Laufwegen schon gar nichts, weil sie nichts über fussballerische Qualitäten sagen. «Ich war eine Nummer zehn, solche Spieler machen den Fussball schöner. Meine Zeit wäre früher gewesen, als Strassenkicker, ohne Schienbeinschoner.» Chiumiento will weitermachen mit den Kindern, sie auf seine Art fördern. Er möchte ihnen seine Magie beibringen, das Dribbeln, Jonglieren, die Technik. Deshalb hat er in Heiden die «Giocafútbol, La Academia Chiumiento» gegründet, die eigene Fussballschule. «Ich will wieder Strassenfussballer sehen, keinen Mainstream, keine Roboter. Ich liebe dieses Spiel, der Fussball gehört den Menschen.» Und auch ein bisschen ihm, Davide Chiumiento.

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