20.08.2021

«Der Rollstuhl war keine Option»

Vor zwölf Jahren sass Silvia Schweizer nach einem Unfall im Rollstuhl. Nun wandert sie von Erstfeld nach Appenzell.

Zu Fuss beträgt die Distanz von Erstfeld nach Appenzell mehr als 200 Kilometer. Auch ohne die Tausenden hinzukommenden Höhenmeter eine Strecke, die für jeden eine Herausforderung ist. Silvia Schweizer konnte vor zwölf Jahren nur davon träumen, eine solche Tour zu laufen. Heute legt die willensstarke Frau die Route ohne Hilfe zurück.Am 15. Februar 2009 erlebte Silvia Schweizer einen schweren Schicksalsschlag. Bei einem Skiausflug am Nätschen erwischt die gebürtige Untertoggenburgerin den falschen Weg und stürzt sieben Meter in die Tiefe. Die Folgen waren verheerend: ein Berstenbruch in der Lendenwirbelsäule, ein Brustbeinbruch, eine ausgerenkte Schulter und der Abbruch des Knochens, an dem die Oberarmsehnen befestigt sind. Nach einer Notfalloperation im Unispital Zürich kam dann die ärztliche Prognose: inkomplette Paraplegie. Schweizer werde nie mehr laufen können.Doch die damals 38-Jährige ist eine Kämpfernatur. Obwohl sie die Oberflächen-Sensibilität von der Hüfte abwärts verloren hat, gibt sie sich nicht ab mit dem Befund, lebenslänglich an den Rollstuhl gefesselt zu sein. Schweizer erinnert sich: «Für mich gab es diese Option nicht. Für mich war klar, dass ich wieder laufen werde.»Der Kampf gegen und mit dem KörperIm Schweizer Paraplegiker Zentrum in Nottwil lernte die Buchhalterin während dreier Mona-te in täglicher Therapie, wie sie mit ihrem veränderten Körper umzugehen hat. «Man verliert die Privatsphäre, die Intimsphäre und den eigenen Körper, aber man lernt auch, mit dem Schmerz umzugehen», sagt die inkomplette Paraplegikerin über ihren Reha-Aufenthalt.Und die Therapie war erfolgreich: Nach nur zwei Monaten im Rollstuhl konnte die Kämpferin sich mit Hilfe von Stöcken wieder selbst fortbewegen. «Mein Arzt hat zu mir gesagt, er habe nur 40 Prozent gemacht und ich die restlichen 60 Prozent», sagt die 51-Jährige heute mit Stolz und Dankbarkeit. Schweizer betont auch: «Der erste Schritt zur Genesung ist, dass man die Lage akzeptiert, wie sie ist.» Zwölf Jahre nach dem Unfall hat sich die Frau aus Erstfeld eine grosse Aufgabe gestellt, um ihren Körper zu würdigen. Sie will alleine von ihrem jetzigen Wohnort Erstfeld im Kanton Uri nach Appenzell – ihrem Herkunftsort – wandern. Eine Strecke, die selbst mit zwei uneingeschränkt funktionierenden Beinen eine riesige Herausforderung ist. Die Route hat sie bereits lange im Vorhinein geplant. Jeder Stopp hat eine Bedeutung im Herzen der Sportliebhaberin. Start der Tour ist der jetzi-ge Wohnort Erstfeld. Auf der ersten Etappe Richtung Balmenschachen zündet Schweizer in einer Kapelle eine Kerze an. Eine Kerze, die einer wichtigen Person in ihrem Leben gedenkt und zehn Tage brennen soll – die Dauer, die sie sich für die gesamte Route eingeplant hat. Der weitere Weg wird sie über den Panixerpass nach Flums bringen – der Heimatregion ihrer Mutter. Der nächste Stopp in Wildhaus erinnert sie an ihre Kindheit, denn hier verbrachte die 51-Jährige in der Schule die Skilager. Auch den Säntis will Schweizer auf ihrer Wanderung erklimmen: «Ich wollte schon immer in den Bergen wohnen. Von unserem Elternhaus hat man direkt auf den Säntis gesehen, er ist für mich ein Symbol.» Von dem 2502 Meter hohen Berg geht es über die Ebenalp hinunter auf den Landsgemeindeplatz in Appenzell, wo sie von ihren Eltern empfangen wird. Hier sind ihre Wurzeln und hier endet ihre Reise – für diesen Tag.Silvia Schweizer wird den Grossteil der Tour alleine bestreiten. Nur am ersten Tag ist eine Begleitung eingeplant. Die Nächte verbringt sie in Hotels – alles andere ist unmöglich, da seit dem Unfall eine Metallstange in ihrer Wirbelsäule steckt. Auf die Frage hin, ob sie Respekt vor einem Unglück habe, sagt Schweizer: «Natürlich ist es ei-ne Herausforderung. Wenn ich nicht immer auf meine Füsse schaue, könnte ich abrutschen.»Ängstlich wirkt sie jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Tour scheint eine Herzensangelegenheit zu sein, mit der sie für sich selbst und alle anderen ein Zeichen setzen will. Auch wenn ihr Körper sie unterwegs weniger weit tragen mag, als ihr Wille geht, ist die Wanderung etwas, worauf sie stolz sein kann. «Ich will den Leuten Mut machen. Scheitern ist nicht schlimm.»Das Unmögliche möglich machenAuch heute noch geht die 51-Jährige monatlich in Therapie, hat gute und schlechte Tage. Der Schmerz ist ein ständiger Begleiter. Trotzdem ist Schweizer dankbar, denn sie hat das Unmögliche möglich gemacht: «Es sieht zwar nicht immer elegant aus, aber ich kann laufen», sagt sie. Und nicht nur das: Die aktive Erstfelderin geht leidenschaftlich gerne auf Velotouren, betreibt Langlauf und bewandert die Schweiz. Und das alles, obwohl ihre Chancen darauf vor zwölf Jahren bei null waren. Mit ihrer Geschichte möchte Silvia Schweizer anderen Leuten mit ähnlichen Schicksalsschlägen Kraft und Hoffnung schenken. Sie sagt: «Es braucht nur einen Menschen, der an das Unmögliche glaubt, und das ist man selbst.Aline Baumgartner»

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