28.11.2019

Der letzte Zeuge wird begraben

In Rüthi versprach einst eine Zementfabrik Wohlstand. Grundlage dafür war ein Steinbruch, der nun verschwindet.

Von Peter Köppel
aktualisiert am 03.11.2022
An der Hauptstrasse zwischen Rüthi und Lienz liegt bergseits im ehemaligen Steinbruch eine riesige Erddeponie. Modernste Baumaschinen bewegen und planieren diese Erdmassen und es wird nur noch wenige Monate dauern, bis vom Steinbruch nichts mehr zu sehen ist. Es ist das Ende einer ganz besonderen Geschichte.150 Arbeitsplätze geschafftenVor etwa 110 Jahren wurde in Rüthi auf dem Areal der Firma Menzi Muck AG eine Zementfabrik mit Gleisanschluss gebaut. Weshalb, ist offensichtlich: Zwischen Rüthi und Lienz war Kalkstein, der für die Herstellung von Zement erforderlich war, in grossen Mengen vorhanden. Eine Ressource, die im ganzen Tal erfreut zur Kenntnis genommen wurde. So konnte im Jahr 1908 mit dem Abbau von Kalkstein begonnen werden; einer vielversprechenden Produktion des begehrten Baustoffes Zement stand nichts mehr im Weg. Es war der Beginn eines industriellen Höhenflugs, gegen 150 Arbeitsstellen wurden für den Abbau im Steinbruch und für die Zementproduktion geschaffen. Der gute Geschäftsgang machte der Bevölkerung in der Agglomeration Rüthi grosse Hoffnung auf einen wirtschaftlich nachhaltigen Aufschwung. So wurden sogar einige Sozialwohnungen für das Betriebspersonal gebaut – damals ein absolutes Novum.Doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam nach wenigen Betriebsjahren die Hiobsbotschaft, dass die Zementproduktion in Rüthi eingestellt werden muss. Mit ein Grund war der Beginn des Ersten Weltkrieges, viele Angestellte mussten Militärdienst leisten.Der Geschäftsgang wurde erheblich geschwächt. Ein Stellenabbau war unumgänglich und innerhalb weniger Monate wurden gegen hundert Mitarbeiter entlassen. Ein absolutes Desaster, wenn man bedenkt, dass um die Jahrhundertwende ohnehin ein Grossteil der Bevölkerung in Armut lebte. Danach hat der Steinbruch über hundert Jahre im Dornröschenschlaf verbracht.Munitionsmagazin mitten in der FelswandDer markante, senkrecht abfallende helle Kalksteinfelsen war der letzte Zeuge dieser wirtschaftlich turbulenten Jahre. Als letztes Bauwerk war das kleine und nur schwierig zugängliche Munitionsmagazin mitten in der Felswand gut zu erkennen. Darin wurde Sprengstoff für den Felsabbau trocken und sicher gelagert. Ein Dekor der besonderen Art waren letztlich die vielen Laubbäume und Sträucher, die das geschichtsträchtige Felsband umrahmten.Diese Epoche ist nun endgültig vorbei. Der Steinbruch wurde zur Deponie für die Ablagerung von sauberer Erde. Vom Kalksteinbruch sind nur noch die letzten Konturen zu erkennen. Insgesamt wurden bis anhin rund 180000 Kubikmeter sauberes Erdmaterial aus dem Rheintal aufgeschüttet und gemäss Hochrechnungen werden nochmals etwa 40000 Kubikmeter hinzukommen.Man geht davon aus, dass in ein bis zwei Jahren das Projekt Steinbruch abgeschlossen sein wird und das fruchtbare Kulturland der Landwirtschaft übergeben werden kann.Einerseits ein erfreuliches Kapitel; denn egal aus welcher Perspektive dieser ehemalige Steinbruch auch betrachtet wird, er ist eine Augenweide und ergibt ein schönes Landschaftsbild. Andererseits gehört er als Erinnerung an die Zementfabrik nun endgültig der Vergangenheit an.Nicht alle Fragen können beantwortet werdenEinige Fragen bleiben allerdings wohl für immer unbeantwortet: Weshalb wurde von dieser ehemals wirtschaftlich dominanten Zementfabrik nur sehr wenig dokumentiert? Warum bestand diesbezüglich eine derartige Verschwiegenheit? War möglicherweise die sehr kurze Betriebszeit des Werkes ein Grund für den Existenzverlust vieler Familien?Es bleibt die Freude darüber, dass am Ende dank einer klugen Landschaftsplanung das Schöne mit dem Nützlichen verbunden werden konnte.

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