04.02.2021

Der lange Kampf der Chauffeure

Kalbsgeschnetzeltes statt Eingeklemmtes: Seit einer Woche dürfen ausgewählte Restaurants abends für LKW-Fahrer wieder öffnen.

Von David Grob
aktualisiert am 03.11.2022
Es ist ein wenig wie früher. Ruedi Siegfried und Heiner Miesch haben einen langen Arbeitstag hinter sich. Siegfried, blaue Jacke der Firma Hugelshofer aus Frauenfeld, Schnauz, schmaler Kinnbart, hat mehrere Ladungen Zement in den Aargau transportiert. Miesch, schwarze Jacke der Firma Egger aus St. Gallen, grauer Kurzhaarschnitt, eindringlicher Blick, hat vorgefertigte Wände für einen Kindergarten im Kanton Zürich auf seinem Schwertransporter geladen. Jetzt, rund elf Stunden Arbeitszeit und Hunderte Fahrkilometer hinter sich, sitzen sie im Restaurant Landhaus ausserhalb von Wängi an Holztischen, im Hintergrund läuft SRF 3, ihre Lastwagen reihen sich vor dem Restaurant aneinander, vor ihnen steht eine Schüssel Rieslingsuppe und eine Stange Bier, daneben liegen Smartphone, Portemonnaie und Maske. Es ist ein wenig wie früher. Und doch nicht ganz. Früher wären sie vis-à-vis am selben Tisch gesessen, früher wäre der Raum erfüllt gewesen von Gespräch, Gelächter, Geproste. Jetzt ist es ruhiger, Miesch und Siegfried sind die einzigen Gäste. Sie reden wie früher, nur trennen sie an diesem Montagabend zwei Tischplatten und mehrere Meter voneinander.Seit dem 22. Januar dürfen ausgewählte Restaurants für Chauffeure und Lastwagenfahrerinnen abends wieder öffnen und warme Mahlzeiten an einem Tisch sowie eine heisse Dusche anbieten. «Nach langem Kampf», wie der Chauffeurverband Les Routiers Suisse auf seiner Website schreibt. 55 Restaurants listet der Verband auf, welche derzeit die Bewilligung erhalten haben. Einzige Bedingung: Die Fahrer müssen vor den Restaurants und Raststätten in ihren Führerkabinen übernachten, die Wirte müssen die Kontaktdaten, Autonummer und den Firmennamen aufnehmen. Hinzu kommen die bekannten Massnahmen: Abstand, Maskenpflicht ausser beim Essen.Duschen, warme Mahlzeiten, Gespräche? Fehlanzeige«Essen in der Kabine, alleine? Wenn man ohnehin den ganzen Tag alleine im Lastwagen sitzt? Das ist eine einsame Angelegenheit», sagt Heiner Miesch. Während rund eines Monats seit dem Beizenlockdown am 22. Dezember haben sich die Chauffeure an Tagen, an denen sie abends nicht zu Hause sind, von Sandwichs und Essen aus Take-aways ernährt. «Es ist auf die Dauer ungesund und unbefriedigend», sagt Miesch. Ruedi Siegfried sagt von der anderen Seite des Raumes: «Man musste den Tag viel mehr planen.»Duschen, warme Mahlzeiten, Gespräche? Fehlanzeige. «Oft ist es kalt in der Kabine, die Hygiene stimmt nicht, wenn man Pech hat, ist man abends auf einem Parkplatz, auf dem es nicht mal ein anständiges WC hat», sagt Siegfried. Der Verband der Nutzfahrzeuge Astag beklagte Ende Dezember die Situation. «Wir schlagen Hygienealarm», schrieb Astag-Präsident Thierry Burkart in einer Medienmitteilung. Trotz verlässlichem Einsatz für die Grundversorgung seien für Chauffeure in der ganzen Schweiz kaum noch Toiletten und Duschen zugänglich. Miesch, enerviert und konsterniert: «Die Schliessung der Restaurants und Raststätten war entwürdigend für uns.» Er verstehe ja, dass etwas gemacht werden musste. Er verstehe aber nicht, dass dies auf dem Buckel der Kleinen geschehe. So fordert Miesch die komplette Öffnung der Restaurants auch am Mittag, schliesslich hätten viele Gastronomen viel Zeit und Geld darin investiert, die Schutzmassnahmen umzusetzen. Dann holt er aus: «Es kann doch nicht sein, dass Wirte in Konkurs gehen, während die Politiker in Bern weiterhin ihren Lohn erhalten. Es ist eine Frechheit gegenüber jenen, die auf ein Essen auswärts angewiesen sind. Bauarbeiter, Büezer. Und bis vor kurzem auch wir. Gleichzeitig bleibt das Restaurant für die Politiker in Bern einfach offen, die Skigebiete sind geöffnet, die Leute drängen sich in die Gondeln, Wellnessferien in Hotels sind weiterhin erlaubt. Und wir konnten lange nicht mal aufs WC oder in der Wärme essen. Wir fühlen uns gedemütigt! Dies ist eine Sauerei!» Im Frühling, während des ersten Lockdowns, da sei die Schliessung noch kein gröberes Problem gewesen, sagt Siegfried ruhig. «Es war warm, wir konnten auf den Parkplätzen grillieren, zusammen an der frischen Luft ein Feierabendbier geniessen. Aber jetzt? Jetzt geht das nicht.» Was er am meisten schätze an der Öffnung? «Alles», sagt Siegfried. Und wiederholt: «Alles.»«Wir sind zufrieden mit der jetzigen Variante. Es ist eine gute Lösung für den Winter», sagte David Piras bereits am Nachmittag am Telefon. Der St. Galler ist seit rund 20 Jahren Geschäftsführer des Chauffeurverbandes Les Routiers Suisse. Und hat sich intensiv für die Öffnung der Restaurants für die Lastwagenfahrer eingesetzt. Piras suchte bereits Ende November, als sich die Anzeichen für einen weiteren Beizenlockdown verdichteten, nach einer Lösung: Erst versuchte es der Verband beim BAG. Vergeblich. Dann rief er die Chauffeure dazu auf, Bundesrat Berset einen Brief zu schreiben. Vergeblich. Um Weihnachten wurde Piras vom BAG an die kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren verwiesen. «Doch dann ging es plötzlich zack-zack», sagt Piras. Mitte Januar verabschiedete das BAG ein Konzept. Die Lösung: Ausgewählte Restaurants für Chauffeure zählen als Betriebskantinen und sind damit von dem Beizenlockdown ausgenommen. Eine Woche später öffneten die ersten Restaurants am Abend ihre Türen. «Wir müssen uns beim BAG bedanken, dass es doch noch zu einer Lösung gekommen ist.»Suppe und Salat sind gegessen, Wirt Flemming Kocherhans serviert den Hauptgang: Kalbsgeschnetzeltes mit Nudeln. 20 Franken kostet der Dreigänger. Zwei Menus und einige Getränke – viel verdient Kocherhans an diesem Abend nicht. «Ich habe nicht für mich geöffnet. Für mich ist es eine Geste der Wertschätzung an die Chauffeure.»[caption_left: Für Flemming Kocherhans ist die Bewirtung der Chauffeure Ehrensache.]Seit knapp 50 Jahren ist sein Gasthaus ein sogenanntes Relais Routiers, ein Restaurant, das Mitglied von Les Routiers Suisse ist und sich speziell an Lastwagenfahrer richtet. An der Hauptstrasse zwischen Frauenfeld und Wil und in der Mitte der beiden Autobahnzufahrten Münchwilen und Aadorf liegt sein Gasthaus ideal für passierende Chauffeure. Fünf Parkplätze für die Schwerfahrzeuge bietet Flemming an, duschen können die Fahrer in einem der Hotelzimmer.Heisse Dusche, warme Mahlzeit, zurückerlangte NormalitätMiesch und Siegfried besuchen das Restaurant Landhaus regelmässig. Sie kennen sich seit Jahren durch die Arbeit, man trifft sich gelegentlich zufällig an Abenden wie diesem. «Es tut gut, abends ein normales Gespräch führen zu können und vielleicht noch ein Glas Wein oder Bier zu trinken», sagt Siegfried ein wenig später auf der Terrasse bei einer Zigarette. Wenig später verlassen sie das Restaurant, steigen in ihre Kabinen, ein Schild mit «Heiner» liegt hinter der einen Windschutzscheibe, ein Schild mit «Sigi» hinter der anderen. Miesch und Siegfried richten sich ein in ihren einsamen Reichen hinter dem Steuer. Und freuen sich über die Öffnung. Die heisse Dusche nach der Arbeit. Die warme Mahlzeit. Die Gespräche. Und die zumindest ein Stück weit zurückerlangte Normalität.

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