Von Freude kann bei diesem grausligen Thema keine Rede sein. Aber von einer späten Genugtuung für die Opfer und die Angehörigen, die Thomas Benz verspürt. Am 16. Dezember beschloss nach dem Nationalrat auch der Ständerat, dass Schwerstverbrechen wie Mord nicht mehr verjähren sollen. «Ein historischer Tag», sagt Benz. «Endlich soll dieses veraltete und unlogische Gesetz geändert werden.»
Eine späte Anerkennung für die jahrelange Arbeit, obwohl der wichtigste Anlass, der Doppelmord bei der Kristallhöhle Kobelwald (Oberriet), seit 2012 verjährt ist und das neue Gesetz selbstverständlich nicht rückwirkend gilt. Benz und einige Gleichgesinnte in der IG Kristallhöhle hatten die Initiative zur Abschaffung der Verjährungsfrist angestossen, der Bernecker SVP-Nationalrat Mike Egger verhalf ihr zum politischen Durchbruch – zunächst im St. Galler Kantonsrat, dann via Standesinitiative in Bundesbern.Für das neue Gesetz sprächen zwei Gründe, meint Benz: «Ein Täter darf sich nie sicher fühlen und muss immer wissen, dass ihm die Ermittler auf die Schliche kommen können.» Und: «Angehörige von Mordopfern kennen keine Verjährung.» Jedoch müssten zwingend auch andere Delikte wie Totschlag und vorsätzliche Tötung gesetzlich neu definiert werden, fügt er an. «Wenn ein länger zurückliegendes Verbrechen doch noch aufgeklärt wird, ist die Motivlage schwer zu ergründen. Das dürfte für die Gerichte in Zukunft die grösste Herausforderung sein.»Privatermittler und Hauptfigur in BüchernThomas Benz, Jahrgang 1975, hatte beruflich mit dem Tod zu tun, nicht als Polizist oder Richter, sondern als Bestatter – jedenfalls bis 2020, seither lässt er sich zum Fachmann Gesundheit ausbilden. Der langjährige Beruf ist aber nicht der Grund, warum ihn der sogenannte Kristallhöhlenmord seit der Jugend nicht losgelassen hat und er auf eigene Faust jahrzehntelang im ungelösten Fall ermittelte.Als Bub an Wochenenden und in den Schulferien oft bei seinen Grosseltern in Rüthi zu Besuch und mit der Kristallhöhle vertraut, verstand er damals nicht, warum das Verbrechen ungeklärt blieb. Als Primarschüler ging er «in Kobelwald und Kobelwies von Haus zu Haus und fragte die Leute, ob sie Ende Juli 1982 etwas Auffälliges gesehen hätten», wie er sich erinnert. Die offenen Fragen quälen ihn derart, dass er den Fall zu einer Lebensaufgabe macht. Zwanzig Jahre später beginnt er gründlich zu recherchieren, befragt Polizisten, trifft Verdächtige, Zeugen, Informanten und erhält Einsicht in die Akten der Untersuchungsbehörden; er investiert Tausende Stunden Freizeit in die Aufklärung des Falls und lässt den Behörden keine Ruhe. Ein Getriebener, ja ein «Besessener», wie manche meinen. «Ich konnte nicht anders, es war eine Herzensangelegenheit und das Zweitwichtigste in meinem Leben», sagt Benz. Obwohl deswegen Beziehungen und Freundschaften in die Brüche gehen und ihn viele Leute ausgrenzen, gibt er nie auf. «Umso mehr, als ich in den 1990ern merkte, dass die Polizei den Fall schnell zu den Akten gelegt hatte.»
Benz sammelt Hinweise, veranstaltet Tatort-Begehungen, organisiert Vorträge. Und er informiert Journalisten, inspiriert mehrere Bücher wie Walter Hausers «Hoffen auf Aufklärung» (2018) oder Peter Beutlers fiktionalisierten Krimi «Kristallhöhle» (2014), in dem Benz als Bruno Bänziger – zu seinem Befremden – sogar zur Hauptfigur wird. Er war der «Motor gegen das Vergessen»Im neuesten Buch, dem im September 2021 erschienenen Sammelband «Im Auftrag der Toten» des ehemaligen Bremer Kripochefs und TV-Profilers Axel Petermann, tritt Benz als wichtigster Informant und Helfer auf – bis hin zu halsbrecherischen Touren mit Kleiderpuppe zu den Leichenfundorten im felsigen Gelände. «Der kräftige Mittvierziger mit seinem markanten Bürstenhaarschnitt» sei der «Motor gegen das Vergessen der beiden Verbrechen», schreibt Petermann. «Vermutlich hat Benz wie kein Zweiter Kenntnisse über den Fall.» Und er glaube dem Mann, «dass er nicht ertragen kann, dass die Angehörigen der Toten weiter in Ungewissheit leben und niemand wegen der Morde zur Rechenschaft gezogen wurde.»
Benz ist froh um das Buch, er lobt Petermanns Arbeit und freut sich über das grosse Interesse an den Vorträgen und Lesungen im Rheintal und in seinem Wohnort St. Gallen. Damit sei auch für ihn «ein wichtiger Lebensabschnitt ein Stück weit abgeschlossen», sagt er. «Auch wenn das nie ganz sein kann.» Sein Ziel sei es «immer gewesen, dass der Fall nicht in Vergessenheit gerät». Das hat er erreicht, und trotz aller Beschwernis habe ihm die jahrelange Obsession «viele spannende Begegnungen, Begehungen und Erfahrungen» beschert.
Vier Monate nach Erscheinen des Buchs versiege die leise Hoffnung, dass ein neuer entscheidender Hinweis auftauche oder jemand, wenn nicht der Täter, so beispielsweise eine Ex-Frau, doch noch seine Gewissenskonflikte überwinde. Bedauerlich bleibt für Benz, dass die regionale Bevölkerung und die Politik noch vor der Verjährung nicht mehr Interesse für die Aufklärung des Falls zeigten. «Viele Leute lesen gern Krimis und schauen Tatort, aber vor einem konkreten Mord in der Region schrecken sie zurück.» Petermanns Buch ist wie erwartet ein Bestseller und erscheint bereits in dritter Auflage.Seine Enttäuschung über Polizei und Politik bleibtUnbegreiflich erscheint Benz heute wie damals der Mantel des Schweigens, den sich das Dorf Oberriet übergelegt habe. Das stellte auch der verfahrensleitende Untersuchungsrichter und spätere Bundesrichter Niklaus Oberholzer fest, der sich an die Omertà eines sizilianischen Mafia-Dorfes erinnert fühlte. Er habe in seiner Laufbahn «noch nie so viele dubiose Gestalten» befragen müssen, so Oberholzer. Die «verbockte Mentalität» und die Verbandelungen der Dorfbewohner hätten die Untersuchungsbehörden erst recht zu auswärtigen Ermittlern greifen lassen müssen, meint Benz. «Und warum der damals weitherum geschätzte wissenschaftliche Dienst der Stapo Zürich nicht in Anspruch genommen wurde, ist mir ein Rätsel.»Benz verhehlt seine Enttäuschung über die St. Galler Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft nicht. Dass ihn die Polizisten «oft belächelt» hätten, kümmert ihn weniger als der Eindruck, sie hätten Hinweise nicht oder zu wenig seriös überprüft. Dass bis zur Verjährung 2012 ein einzelner Sachbearbeiter der Kripo für eines der gravierendsten Verbrechen in der Kantonsgeschichte verantwortlich war, empfindet er als Hohn für die Opfer und die Angehörigen. «Zeitlebens. Diese tragische Tatsache kann man auch mit einem neuen Gesetz nicht mehr gutmachen.»Am meisten jedoch «nervt» Benz im Rückblick nach wie vor die politische Dimension des Falls. «Dass Gemeindeangestellte von oben geschützt und Ermittler ausgebremst wurden, ist unglaublich.» Politische Seilschaften und Vereinsverbindungen, etwa in der Jagd, seien wichtiger gewesen als schonungslose Aufklärung, sagt Benz, der sich auf Aussagen ehemaliger Ermittler beruft. So sei ein tatverdächtiges Familienmitglied eines damaligen Oberrheintaler Gemeindevertreters «geschont» worden oder habe ein anderer Tatverdächtiger trotz laufender Ermittlungen weiterhin Gemeindeaufträge erhalten. «Man kannte sich halt aus der Sauna», sagt Benz nicht ohne Sarkasmus. Dass der damalige Kommandant der Kantonspolizei, Heinrich Lüchinger, aus Oberriet stammte und passionierter Jäger war, nährte den Verdacht auf private Absprachen. Was Benz ebenfalls stutzig machte: Gemeindepräsident Alex Oberholzer, der spätere CVP-Regierungsrat, beteiligte sich im Gegensatz zum Goldacher Gemeindepräsidenten weder an Suchaktionen noch an Presseauftritten. Der Wunsch nach einem Gedenkstein«Die Gemeindeoberen wussten oft mehr als die Ermittler, warum auch immer.» Allerdings seien die Strukturen damals noch sehr lokal gewesen, räumt Benz ein. «Im Gegensatz zu heute ermittelten regionale Polizisten, die Einvernahmen geschahen auf dem örtlichen Polizeiposten. Dort kannte man sich natürlich.» Trotzdem wundert er sich, warum die Politik auf kommunaler und kantonaler Ebene nicht mehr Druck machte, zumal das öffentliche Interesse riesig war. Die Verbindungen und Vertuschungen in der Region, der fehlende Teamgeist, keine richtige Spurensicherung und so weiter: Benz ist überzeugt, dass die Polizei bessere Arbeit hätte leisten können – und hoffentlich ihre Lehren aus dem traurigen Fall gezogen habe.Viel mehr kann Thomas Benz für seine «Herzensangelegenheit» nicht mehr tun. Und doch macht er weiter: Im Februar will er mit Fachleuten die Erkenntnisse über das Leichenversteck vertiefen. Und wenn es die zeitlich anspruchsvolle Ausbildung und die Beziehung erlaube, plane er noch, ein eigenes Buch zu schreiben – im Hinblick auf den 31. Juli 2022, den vierzigsten Jahrestag des ungesühnten Verbrechens. Als würdigen Abschluss und «für den inneren Frieden» würde sich Benz einen Gedenkstein vor Ort wünschen – als Erinnerungsobjekt und Mahnmal einer «tragischen Geschichte», wie es die Grenzwächter und der österreichische Grenzgänger am Zollamt Oberriet erhielten, die am 5. Januar 1974 von der «Alfa-Bande» ermordet wurden. Auch dies ein Verbrechen in der Region, das den jugendlichen St. Galler mit Oberrheintaler Wurzeln auf beklemmende Weise faszinierte.