12.10.2022

Der Buhmann und das Mädchen für alles

Der Job als Gemeindepräsident oder Gemeindepräsidentin ist anstrengend und fordernd. Und er kann erschöpfen. Warum er das Amt vorzeitig abgab, dazu äussert sich auch Philipp Scheuble, der von 2017 bis 2020 der Gemeinde Rüthi vorstand. Er spricht von "gehässigen E-Mails" und zerstochenen Reifen.

Von Renato Schatz
aktualisiert am 02.11.2022
Er habe wegen «Erschöpfungserscheinungen ärztliche Hilfe beanspruchen» müssen, liess Wittenbachs Gemeindepräsident Oliver Gröble Ende September verlauten. Zu jenem Zeitpunkt fiel er bereits mehrere Wochen aus. Auf Anfrage will sich Gröble – verständlicherweise – nicht äussern. Wer sich aber umhört, stellt fest: Gröble ist nicht der einzige, den dieser Job erschöpft.Kaum einer weiss das besser als Stefan Frei, Gemeindepräsident in Jonschwil. Seit 22 Jahren. Im Kanton St. Gallen ist nur der Oberuzwiler Cornel Egger länger im Amt, er steht seiner Gemeinde seit über 31 Jahren vor. Frei sagt: «Pro Jahr komme ich auf fünf bis zehn Ferientage, die ich nicht beziehen kann. Dazu kommen 200 Stunden Überzeit, was etwa einem Monat entspricht.» In seinem ersten Jahr habe er gar drei Monate Überzeit gemacht, «aber mit der Zeit wird man schneller».«Das ist manchmal haarsträubend»Das mit der Geschwindigkeit ist so eine Sache. Sie habe wegen der Digitalisierung zugenommen, sagt Frei. Nur hat sie überall zugenommen: Mehr Mails, mehr «Prozesse», wie er sagt. Zu viele Prozesse?Einer, der vor einiger Zeit sein Amt als Gemeindepräsident in der Region aufgab, sagt: «Wenn man in der Privatwirtschaft ein Projekt aufgleist, funktioniert das in der Regel tipptopp.» In einer Gemeinde sei das ganz anders, es gehe erst zum Kanton oder zum Bund – und dann wieder zurück. «Bis jeder seinen Senf dazugegeben hat. Das ist manchmal haarsträubend.» Erschwerend komme hinzu, dass viele nicht über das nötige Know-how verfügten. «Wie auch? Das ist dem Milizsystem geschuldet.» Viele Gemeinderäte, die den Gemeindepräsidenten unterstellt sind, arbeiten Teilzeit. Es klingt nach Hamsterrad. Nach Stress und Status Quo.Auch Frei hört bald auf, im nächsten Jahr, allerdings des Alters wegen. Er bereut die Zeit als Gemeindepräsident nicht, sagt, er würde es wieder tun. «Und jedem empfehlen, der eine dicke Haut hat und die richtige Ausbildung mitbringt.»Gehässige Briefe von EinwohnernDie richtige Ausbildung hatte eigentlich auch Philipp Scheuble, der die Gemeinde Rüthi zwischen Januar 2017 und April 2020 präsidierte. Er machte schon die Lehre auf der Gemeinde, war später an verschiedenen Orten im Betreibungs-, Sozial-, Vormundschafts-, Landwirtschafts- und Bestattungsamt tätig. Kurz: Scheuble kennt die Verwaltung, von A bis Z.Und doch gab er sein Amt frühzeitig auf. «Kurz und bündig gesagt: Ich war persönlich nicht mehr zufrieden.» Das überrascht nicht, wenn man Scheubles Geschichten hört. 2016, als er seine Kandidatur als Gemeindepräsident bekannt gab, wurden die Reifen seines Velos dreimal zerstochen. «Am helllichten Tag beim Veloständer vor dem Rathaus.» Bis heute weiss er nicht, wer dafür verantwortlich ist.Dann, als er Gemeindepräsident war, stimmte die Bevölkerung über den Neubau eines Klubgebäudes auf der Sportanlage Rheinblick ab. Neben «gehässigen E-Mails» erhielt Scheuble irgendwann auch anonyme Briefe. Mehrseitige Schreiben, nach Hause adressiert. «Beim Umgangston wurde die rote Linie überschritten», sagt er. «Und das bei einem Dorf mit rund 2400 Einwohnern. Wo jeder jeden kennt. Und jeder direkt ins Büro des Gemeindepräsidenten kommen kann. Die Tür stand immer offen.»Es ist, als sei da immer noch ein Staunen. Unglaube, dass Menschen so sein können. Seine Menschen. Er wohnte ja dort, das ist eine der Vorgaben, wenn man Gemeindepräsident werden will.Eine andere: «mindestens 18 Jahre alt» sein, wie Bernhard Keller, Geschäftsführer der Vereinigung der St. Galler Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten (VSGP), auf Anfrage schreibt.Der Kopf voller DossiersGemäss Statuten bezweckt der Verein «die Vertretung der gemeinsamen Interessen der St. Galler Gemeinden.» Dafür trifft man sich zweimal im Jahr im Rahmen einer Generalversammlung. Ausserdem gibt es regionale Untergruppen, die sich alle zwei Monate verabreden. Keller nennt den Verein «auch ein wenig eine Selbsthilfe-Gruppe, in der Tipps für die Bewältigung konkreter Fragestellungen ausgetauscht werden». Das wird geschätzt. Der anonyme ehemalige Gemeindepräsident sagt: «Es heisst, es dauert vier Jahre, bis man in einem solchen Amt drin ist. Am Anfang versteht man nur Bahnhof.» Doch irgendwann ist der Kopf voller Dossiers, und man hält ihn hin, wie ihn Scheuble in Rüthi hinhielt. Er sagt: «Der Gemeindepräsident ist das klassische Mädchen für alles und der Buhmann für alles. Und auch wenn die Verwaltung noch so gut organisiert ist: Der Bürger, der sich ungerecht behandelt fühlt, möchte mit dem Gemeindepräsidenten sprechen.»Um 22 Uhr zu HauseDas ist auch so etwas, die Verfügbarkeit: «Man ist 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr verfügbar und an der Öffentlichkeit. Und wenn man das Büro verlässt, geht man nicht nach Hause, sondern an eine Versammlung oder eine Hundsverlochete», sagt der anonyme ehemalige Gemeindepräsident.Und Scheuble: «Man muss die Bereitschaft mitbringen, seine Hobbys und Interessen zurückzustellen. Eigentlich muss die ganze Familie diese Bereitschaft mitbringen. Denn wenn man um 22 Uhr nach Hause kommt, geht man nicht mehr in den Verein.»Bloss: Warum sind diese Tage so lang? Was passiert neben diesen Versammlungen und Mails? «Sitzungen», das Wort hört man immer wieder. Auch während dieser Recherche. Man ruft eine Gemeindepräsidentin oder einen Gemeindepräsidenten an. «Sie ist gerade an einer Sitzung», heisst es dann. VSGP-Geschäftsführer Keller beantwortet die Fragen per Mail, wegen diverser Sitzungen. Und schreibt: «Es ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Die Arbeitszeit darf einem keine Rolle spielen.»

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