24.01.2020

Der Arzt als Patient

Wie ist es für einen ehemaligen Chefarzt, mit 79 erstmals operiert zu werden? – Speziell.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Gert BrudererWolfgang Kessler, Chefarzt am Altstätter Spital von 1985 bis 2005, hat zwar einen Hausarzt. Doch der Grund ist eine Pflicht: Als autofahrender Rentner hat Kessler alle zwei Jahre den Nachweis seiner Verkehrstauglichkeit zu erbringen. Bei dieser Gelegenheit lässt er sich jeweils kurz durchchecken.Ein Eingriff warunumgänglichDer leidenschaftliche Orchideenzüchter und Präsident des Altstätter Verkehrsvereins hatte das Glück, zeitlebens gesund gewesen zu sein – bis Mitte Oktober Schmerzen im Unterbauch auftraten. Als Fachmann konnte sich Kessler weitgehend selbst helfen, er ging aber zum Hausarzt, den er aus seiner Zeit im Spital Altstätten kennt. Bald zeigte sich: eine schwere Dickdarmentzündung und eine Eiteransammlung waren das Problem. Damit war bestätigt, was der Patient befürchtet hatte. Er selbst hatte früher als Chefarzt der Chirurgie grössten Respekt davor, im Eiter eine Operation am Dickdarm vorzunehmen, und so hatte er bereits begonnen, mit Antibiotika den Abszess möglichst zum Abklingen zu bringen. Obschon dies gelang, war ein Eingriff unumgänglich.Wolfgang Kessler fand als geeigneten Arzt Walter Brunner, der am St. Galler Kantonsspital die Dickdarmchirurgie leitet, von der Kessler sagt: «Die meisten Leute, unter ihnen sogar viele Ärzte, wissen gar nicht, dass es eine solche gibt.»Sein eigenes Formularvon früher angetroffenDer ungewöhnliche Patient, am Altstätter Spital einst mit dem Ruf behaftet, pingelig zu sein, nahm sich vor, durch Zurückhaltung zu glänzen und der Versuchung, dem Pflegepersonal dreinzureden, tunlichst zu widerstehen. Dass ihm dies gelang, hat Gründe, die dem Spital zur Ehre gereichen.Schon vierzehn Tage vor der Operation wurde Kessler (was er sehr begrüsste) ein erstes Mal in St. Gallen empfangen, wo er verschiedene Stationen durchlief und eingehend über die Operation und die Narkose aufgeklärt wurde. Mit einer Mischung aus Freude und Verblüffung registrierte er, dass in St. Gallen sein eigenes, vor langer Zeit entworfenes Aufklärungsformular verwendet wird.Wolfgang Kessler erreichte 2005 zusammen mit seinem heutigen Hausarzt Martin Rhyner die Zertifizierung des Altstätter Spitals. Er war in der Schweiz der erste gewesen, der Patienten vor einem Eingriff schriftlich darüber in Kenntnis setzte, was sie erwartete. Die Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie beauftragte 1997 den Altstätter Pionier, ein Formular zu erarbeiten und in fünf ausgewählten Spitälern zu testen. «Da isch e Riisesach gsi», erinnert sich der Arzt, der von seinem Pflegepersonal einen hohen Standard erwartete und zum Wohl der Patienten bis in die Küche seinen Einfluss geltend machte.Nichts bemängelt,alles war perfektWas er als Patient besonders schätzte, war denn auch das als vorbildlich erlebte Pflegegespräch im Kantonsspital. Fast eine Stunde habe es gedauert, und dann hätten alle auf der Station gewusst: «Da kommt ein pedantischer ehemaliger Chefarzt.» Tatsächlich habe er in allen acht Tagen im Kantonsspital nichts zu bemängeln gehabt. Auch seine Gattin, die zur Pflegefachfrau ausgebildete ehemalige Nationalrätin Margrit Kessler, habe ihn auf seine Rolle als Patient gut vorbereitet und ihm richtiges Verhalten eingeimpft. Am Ende sei ihm das sehr leicht gefallen, denn das zuvorkommende Personal habe alles richtig gemacht – und über Dinge, die aus gutem Grund so oder anders gemacht werden könnten, gebe es ja nichts zu diskutieren.Seit Mitte Januar ist Wolfgang Kessler wieder zu Hause. Alles, was vom Eingriff blieb, sind zwei kaum wahrnehmbare Schnitte. Einen Zentimeter misst der eine, doppelt so gross ist der andere. Sogar einen einstigen Chefarzt können die medizinischen Fortschritte erstaunen. War früher ein zünftiger Schnitt in den Bauch nötig, um ein Gesundheitsproblem wie jenes Kesslers zu beheben, bedient sich ein Fachspezialist heute modernster Bauchspiegelungsgeräte.Nichts einzuwendengegen OrchideenIn seiner Stube an Altstättens Parkstrasse erinnert Wolfgang Kessler eine schöne Orchidee, eine Phalaenopsis, an den Spitalaufenthalt. Seine Familie schenkte sie ihm. Als Orchideenzüchter widersprach er bereits vor Jahrzehnten einer Patienteninformation, in der es hiess, im Spital sollten wegen der Infektionsgefahr keine Topfpflanzen geschenkt werden. Das treffe zwar zu, sagt Kessler, aber nur auf Pflanzen, die in Erde wachsen. Korkschnitzel bei Orchideen seien harmlos.Im Altstätter Spital war nach Kesslers Start als Chefarzt diese Unterscheidung in der Patienteninfo eine Änderung mit schönen Folgen: Seither bekommen Patienten im Altstätter Spital von Angehörigen oder Bekannten öfter eine Orchidee geschenkt.Nicht wenig Patienten zeigten ihre Dankbarkeit auf schöne Weise: War ihre Blume verblüht, brachten sie sie Wolfgang Kessler, der die Orchidee umtopfte und die Wurzel schnitt, sodass die Blütenpracht sich neu entfalten konnte.

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