Im «Rheintaler» vom 27. März 1909 fand die Leserschaft den auffällig platzierten Kurzbeitrag «Wahlzettel unter falscher Flagge». Überschrieben war der Text mit «Aufgepasst» – samt Ausrufezeichen. Sodann war zu lesen: «Wir machen die liberalen Wähler darauf aufmerksam, dass möglicherweise Wahlzettel unter falscher Flagge verteilt und die Stimmberechtigten damit getäuscht werden können.»Um «das Wahlgeschäft zu vereinfachen und eine Stimmenzersplitterung zu vermeiden», ersuchten die Liberalen ihre Gesinnungsgenossen, den in der gleichen Zeitungsausgabe zuvorderst publizierten «offiziellen Wahlaufruf zu beachten und die ausgegebene Parole zu respektieren», also die Stimmzettel genau zu besehen, bevor man sie in die Urne legt.«Berechtigte Missstimmung»In jenem direkt «an die Liberalen des Oberrheintals» gerichteten Text wurde über die Lücke informiert, die am Bezirksgericht Oberrheintal wegen eines Todesfalls entstanden war. Nur einen Tag nach Erscheinen des Zeitungsbeitrags sollte in einer Ersatzwahl der Nachfolger gewählt werden.Die Sache war aber mit grossem Ärger verbunden. Denn die «allzu späte Bekanntmachung dieser Wahl» sowie die «naheliegende Vermutung, dass der Zeitpunkt derselben in konserva-tiven Kreisen schon bekannt gewesen sein dürfte, lange bevor man liberalerseits davon in Kenntnis gesetzt worden war», hatten im Parteilager der Liberalen «eine berechtigte Missstimmung» hervorgerufen.Weiter hiess es, man finde «keinen hinreichenden Grund, der das Bezirksamt, das diese Wahl anzuordnen hatte, entschuldigen könnte». Auch die konservative Parteileitung habe es nicht als nötig erachtet, das liberale Bezirkskomitee in dieser Angelegenheit zu begrüssen, die konservativen Herren hätten sich «scheints vorgenommen, die Liberalen als quantité négligeable zu behandeln», d. h. als vernachlässigbare Menge. Ein solcher Standpunkt, kommentierten die Liberalen, sei «schwerlich auf Loyalität und Weitherzigkeit zurückzuführen».Freiwillig auf eigene Kandidatur verzichtetDas entsprechende Komitee hob sodann seine eigene Grosszügigkeit hervor. Dazu bemühte es einen Satz von einer Länge und Verschachtelung, der genausogut vom Schriftsteller Heinrich von Kleist hätte stammen können. Das Komitee schrieb: «Obwohl die Frage nahe lag, ob nicht über die Parteizugehörigkeit die Qualität des zu Wählenden zu stellen wäre und die liberale Partei einen Kandidaten hätte in Vorschlag bringen können, der in hohem Masse zum Richteramt befähigt und geeignet gewesen wäre, wollte das liberale Bezirkskomitee auch nicht den Schein erwecken, als ob ihm der Vorteil der eigenen Partei über alles ginge und es hat daher von vornherein auf die Aufstellung einer eigenen Kandidatur verzichtet.»Kurz gesagt: Die Liberalen anerkannten den Anspruch der demokratischen und Arbeiterpartei auf eine Vertretung im Bezirksgericht.Auch die konservative Parteileitung habe das Begehren der Demokraten verschiedene Male ausdrücklich unterstützt, weshalb die liberale Partei keinen Grund sehe, den von der demokratischen und Arbeiterpartei vorgeschlagenen Kandidaten nicht anzuerkennen, «das noch um so weniger, als die Demokraten anlässlich der letzten Ersatzwahl ins Bezirksgericht ihren Anspruch zu Gunsten des liberalen Kandidaten zurückzogen» und das liberale Bezirkskomitee in dieser Angelegenheit von der demokratischen Parteileitung begrüsst worden sei.Ein «Mann von tadellosem Charakter»Beim Kandidaten der demokratischen und Arbeiterpartei handelte es sich um Mathäus Oertli, Kassier der elektrischen Strassenbahn in Altstätten.Die Liberalen beschrieben ihn als einen «Mann von tadellosem Charakter und durchaus rechtschaffenem Wesen, der die oberrheintalische Arbeiterpartei im Bezirksgericht würdig vertreten und dem letztern wohl anstehen wird».Das Komitee empfahl daher «unsern liberalen Gesinnungsgenossen, den Anspruch der demokratischen und Arbeiterpartei auf eine Vertretung im Bezirksgericht zu würdigen und dem demokratischen Kandidaten ihre Stimme zu geben».Natürlich meldete sich auch die demokratische und Arbeiterpartei Oberrheintal selbst zu Wort. Sie schrieb, sie sei im Bezirksgericht von jeder Vertretung ausgeschlossen.Die Parteiversammlung habe diese Ausschliesslichkeit auch entschieden missbilligt und einmütig beschlossen, den vakant gewordenen Sitz zu beanspruchen.«Wir fordern damit nur ein Recht, das man uns billigerweise nicht vorenthalten kann. Jeder rechtdenkende Bürger wird uns in unserer Forderung unterstützen müssen, indem er es ebenfalls nicht billigen wird, dass eine solche Minderheit, die schon bei verschiedenen Anlässen eine beträchtliche Stimmenzahl auf sich vereinigt hatte, jeglicher Vertretung beraubt sei.»