26.02.2020

«Demenz ist wie eine Wolkendecke»

Edith Thomann aus Altstätten leitet den Spitexdienst in Oberriet. Sie begleitete ihre demente Mutter bis in den Tod.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Letztes Jahr nahm Edith Thomann von einem geliebten Menschen Abschied. Vier Tage vor ihrem 60. Geburtstag starb ihre Mutter. Es war ein schrittweises Lösen von all jenem, was die Mutter ausgemacht hatte. Sie war dement.Es begann ungefähr vor fünfzehn Jahren. Die damals siebzig Jahre alte Mutter vergass immer wieder etwas. «Zuerst dachte ich, das ist normal in ihrem Alter», sagt Edith Thomann. Plötzlich aber nahm ihre Mutter nicht mehr an Gesprächen teil. Eine frisch gepflanzte Blume im gut gehegten Garten riss sie aus. Sie hatte gejätet, hatte Ordnung schaffen wollen.Nach sechs Jahre brachte die Abklärung in der Memory-Klinik Gewissheit. Die Mutter war an Demenz im mittleren Stadium erkrankt. «Die Wahrheit liess sich nicht mehr wegschieben.»Vergessen und vergessen werdenDie Ordnung im Leben der herzlichen Frau wich stetig. Die leidenschaftliche Köchin hatte immer gern Rezepte ausprobiert. Eines Tages fiel Edith Thomann auf, dass ihr Vater anders als sonst der Köchin zur Seite stand. Bald tat er dies im Alltag fast ständig. Seine Frau war oft traurig, hatte das Gefühl, es niemandem mehr recht machen zu können. Sie verlor ihre Sprache, vermochte nicht mehr, sich zu äussern. «Die Demenz ist wie eine Wolkendecke, die sich über ihren Kopf gelegt hatte», sagt Edith Thomann. «Manchmal lichtete sie sich für einen Moment.»Bald konnten die Eltern Haus und Garten nicht mehr unterhalten und zogen in eine Wohnung. Als die Mutter stürzte und einen Schenkelhalsbruch erlitt, wechselte sie ins Pflegeheim. Dort fühlte sie sich wohler, als Edith Thomann gedacht hatte. «Sie kam sich nicht verloren vor.» Zu Hause seien demente Menschen oft einsam. «Sie vergessen nicht nur, sie werden auch oft vergessen.»So wie der Vater zuvor in der Angehörigengruppe Austausch Mut und Lösungen gefunden hatte, wurde er nun von den Fachkräften im Pflegeheim entlastet. «Mir half es, dass wir stets offen redeten.»Die Fachkraft kümmert sich um die demente MutterEdith Thomann weiss besser als andere Töchter, was in ihrer Mutter vor sich ging. Sie ist Pflegefachfrau und leitet seit zehn Jahren den Spitex-Stützpunkt in Oberriet. Sie betreut demente Menschen, solange sie zu Hause wohnen. Mit Fingerspitzengefühl findet Edith Thomann die Balance zwischen ihrer fachlichen Autorität und ihrem Anspruch, ihre Klienten Chef im eigenen Zuhause sein zu lassen. Zum Beispiel in der Körperpflege fällt es dementen Menschen oft schwer, jemand Fremdes nah an sich heranzulassen. Vertrauen baut sie erst auf.Trotz ihres beruflichen Wissens belastete Edith Thomann die fortschreitende Demenz ihrer Mutter. «Ich war traurig und fühlte mich ohnmächtig.» Es gab aber auch lustige Situationen. «Wir haben viel mit ihr gelacht.»Die Entwicklung war nicht mehr umkehrbar. Edith Thomanns Mutter verlor die Orientierung, verstand ihre Umgebung nicht mehr und erkannte ihre Tochter nicht mehr als solche. Manchmal wehrte sie sich mit einem Schupf, wurde aber nicht aggressiv. «Sie blieb herzlich und wir waren bis zuletzt vertraut miteinander.»Edith Thomann wollte ihr berufliches Wissen auch ihrer Mutter zugute kommen lassen. Viereinhalb Jahre lang besuchte sie sie fast jeden Abend im Heim und half ihr bei der Körperpflege. «Ich bin belastbar. Doch manchmal litt auch meine Geduld», sagt sie. Meistens sei es ihr gelungen, den Alltag abzulegen. Sich gemeinsam mit ihrem Vater um die Mutter zu kümmern, vertiefte auch die Beziehung zwischen ihnen.Keine Furcht, selbst zu erkrankenDemenz tritt familiär gehäuft auf. «Vergesse ich einmal etwas, denke ich daran, dass es bei meiner Mutter auch so anfing», sagt Edith Thomann. Sie fürchtet sich dennoch nicht davor, einst selbst zu erkranken. Viele Menschen haben Angst, dass man in der Demenz seine Lebensfreude verlieren könnte. «Meine Mutter bewahrte sie.» Es waren eine Umarmung oder eine vertraute Stimme, die ihr Freude bereiteten. «Dass sie das konnte, obwohl sie viele Fähigkeiten verloren hatte, war meine schönste Erfahrung.» Edith Thomann traf es sehr, wenn sie ihre Mutter traurig erlebte. Machtlos zu sein, betrübte sie.Aus der Perspektive der Fachfrau und der Tochter empfiehlt Edith Thomann betroffenen Familien, sich nicht zu schämen. «Wer eine Demenz unter dem Deckel hält und nicht offen darüber spricht, fördert Berührungsängste.» Viele Menschen glaubten, ein Dementer verhalte sich absichtlich so. Die Erkenntnis, dass sie sich nicht sträuben, sondern orientierungslos sind, komme erst mit dem Austausch.Nicht allein mit Demenz fertig werden zu wollen, sich beraten zu lassen und Hilfe in Anspruch zu nehmen, rät Edith Thomann. «Manchmal traut man dementen Menschen zu wenig zu.» Man benötige Mut, etwas auszuprobieren.HinweisDas Netzwerk Demenz Rheintal lädt Menschen mit Demenz, deren Angehörige und andere Interessierte zum Vortrag «Leben mit Demenz im Rheintal» ein. Er findet statt am Dienstag, 3. März, um 19 Uhr im Hotel Sonne, Altstätten. Referentin ist Cristina De Biaso Marinello.

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