12.10.2021

«Das waren keine Kavaliersdelikte»

Einem heute 20-jährigen Raser attestierte das Kreisgericht Rheintal «fehlende Reife».

Von Andrea C. Plüss
aktualisiert am 03.11.2022
Der Beschuldigte war am 4. April 2019 mit einem Fahrzeug der Marke BMW 323i Coupé unterwegs, das weder über ein amtliches Kennzeichen noch einen Versicherungsschutz verfügte. Der damals knapp 18-Jährige besass keinen Führerschein. Mit ihm im Auto befand sich eine 14-jährige Mitfahrerin.Um einem Patrouillenfahrzeug der Kantonspolizei St. Gallen zu entwischen, die das Fahrzeug kontrollieren wollte, beschleunigte der Beschuldigte auf der Hauptstrasse von Au Richtung Rheineck. Die Matrix «Stopp Polizei» ignorierte er.Ins Dorf gerast und dann überschlagenInnerorts, bei geltender Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h, war der 18-Jährige bereits mit 80 bis 100 km/h unterwegs. «Im Rahmen der Verfolgungsjagd beschleunigte der Beschuldigte seinen BMW im Ausserortsbereich auf eine Geschwindig-keit von rund 140 bis 150 km/h, dies bei regennasser Fahrbahn», heisst es in der Anklageschrift. Eingangs St. Margrethen verlor der 18-Jährige schliesslich in einer Linkskurve die Kontrolle über das Fahrzeug, prallte gegen den Strassenrand, worauf das Fahrzeug abhob, durch die Luft flog und sich um die Längsachse drehte. Beim Parkplatz des Restaurants Schäfli blieb der BMW schliesslich auf dem Dach liegen. Die linke Fahrzeugseite des Autos hatte zuvor noch die Leuchtsäule der Gemeinde St. Margrethen am Ortseingang durchbrochen.Wie durch ein Wunder verletzten sich der Angeklagte und seine Beifahrerin bei diesem Manöver, das wie ein Stunt aus einem Actionfilm anmutet, nur leicht. In der Anklageschrift heisst der Vorfall «qualifizierte Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz». Der Beschuldigte sei ein hohes Unfallrisiko mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingegangen. Das Raserdelikt erfüllt den Verbrechenstatbestand und wird mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet.Vor dem Kreisgericht Rheintal fand am Dienstag die Verhandlung in Form eines abgekürzten Verfahrens statt. Der Beschuldigte hatte im Vorfeld die Tatbestände und Zivilforderungen anerkannt. «Das waren keine Kavaliersdelikte», machte der vorsitzende Richter dem Angeklagten nochmals deutlich.Nebst dem Hauptdelikt wurde dem Angeklagten vorgeworfen, zwischen dem 23. und 27. März 2019 den nicht zugelassenen BMW anderen Personen überlassen und selbst ein weiteres Fahrzeug, auch ohne Zulassung und Versicherung, gelenkt zu haben. In einer Tiefgarage an der Espenstrasse in Widnau war der Beschuldigte zusammen mit anderen Personen in einem Fahrzeug mit quietschenden Reifen um die Säulen gekurvt und hatte gemäss Anklageschrift vermeidbaren Lärm produziert. Dazu kommt eine Sachbeschädigung.Beschuldigter verbrachte Kindheit in Heimen«Wie geht es Ihnen heute?», fragte der vorsitzende Richter den Beschuldigten, der in Begleitung seiner amtlichen Verteidigerin erschienen war. «Momentan gut. Besser als damals», lautete die Antwort des im Mit-telrheintal wohnhaften Angeklagten. Auf die Frage, wie es zu all dem kommen konnte, nannte er familiäre Probleme. Die Umstände, in denen der Beschuldigte aufgewachsen war, dürfen als ungünstig bezeichnet werden. Im Alter von zwei Jahren wurde der heute 20-Jährige von seinen Eltern getrennt, besuchte bis zum elften Lebensjahr die Förderschule in Fischingen und wechselte dann ins Heim Oberfeld in Marbach. Eine Ausbildung als Unterhaltspraktiker schloss sich an. Aktuell sei er auf Jobsuche, versicherte er dem Richter, nachdem er bis vor einem Monat temporär auf dem Bau gearbeitet habe. Der Angeklagte ist kinderlos, nicht vorbestraft und es liegen keine Betreibungen gegen ihn vor. Seit dem 1. August 2019 – an diesem Tag leerte der Angeklagte als Liebesbeweis im Schmidheiny-Park in Heerbrugg Benzin in Form eines Herzens aus, zündete es an und löschte anschliessend das Feuer – habe es keine weiteren Vorfälle gegeben, so der Staatsanwalt, weshalb von einer «guten Prognose» gesprochen werden könne. Das vollumfängliche Geständnis wirke strafmildernd. «Der Angeklagte kann von Glück reden, dass niemand ernsthaft verletzt wurde», rief der Staatsanwalt das Hauptdelikt nochmals in Erinnerung. Die Taten liessen auf die «fehlende Reife» des Angeklagten schliessen.15 Monate bedingtund hohe KostenDie Freiheitsstrafe solle deshalb von 20 auf 15 Monate bedingt herabgesetzt werden, dies bei einer Probezeit von zwei Jahren. Die Geldstrafe (600 Franken) sei (bei zweijähriger Bewährung) zu erlassen. Zu zahlen hat der Beschuldigte eine Busse in Höhe von 1200 Franken sowie einen Anteil der Gesamtverfahrenskosten (21 361 Franken )in Höhe von 16 361 Franken. 5000 Franken gehen zulasten des Kantons. Mit der finanziellen Abwicklung wird sich der Finanzbeistand des Angeklagten zu befassen haben. Der Beschuldigte selbst hat derzeit wenig bis keinen Überblick über seine finanzielle Situation, wie sich im Verhandlungsverlauf zeigte.Das Gericht schloss sich dem Urteilsvorschlag von Staatsanwaltschaft und Verteidigung an. «Hoffentlich können Sie sich auf dem eingeschlagenen Weg halten», gab der vorsitzende Richter dem 20-Jährigen mit auf den Weg. Dieser zeigte sich nach Ende der Verhandlung sichtlich erleichtert.

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