Der Verwaltungsrat der St. Galler Spitalverbunde und die St. Galler Regierung denken daran, die vom Volk deutlich gutgeheissene Spitallandschaft umzupflügen. Die Spitäler würden künftig viel zu grosse strukturelle Verluste erzielen, bekam die verdutzte Öffentlichkeit vor ein paar Wochen mitgeteilt. Aus unternehmerischer Sicht könne es so nicht weitergehen, lautet die Botschaft.Die heftige Reaktion auf solch unerfreuliche Kunde überraschte nicht. Umgehend errichteten Regionalpolitiker, der Altstätter Stadtrat und andere Interessenvertreter verbale Palisaden – ja, ein eigentliches Bollwerk aus Empörung und «Nicht mit uns» wurde in Windeseile errichtet. Und der Kern der Botschaft lautete bei allen: Beeindruckend klar habe das Volk die zur Abstimmung gebrachte Spitalstrategie genehmigt, wozu der Ausbau und die Erweiterung des Altstätter Spitals gehören.Richtig, das Volk hat entschieden. Was das Volk entscheidet, gilt. Das Volk hat das letzte Wort.Das ist die eine Seite der Medaille. Zu ihr gehört, dass zum Beispiel ich selbst ein gutes Gefühl habe, wenn ich weiss, dass ein unverhofft auftretendes Gesundheitsproblem in nächster Nähe und in Windeseile von Spezialisten gelöst würde. Es ist auch so, dass mein Vertrauen in die Kunst der nahe arbeitenden Mediziner intakt ist. Ich gehe davon aus, dass im Altstätter Spital bei Bedarf Wesentliches für meine Genesung (und Rettung) geleistet würde.Wie die andere Seite der Medaille aussieht, will fast niemand hören oder lesen. Es ist die ganz und gar unangenehme Seite. Es geht um hohe Kosten (die alle gemeinsam zu tragen haben), aber auch um Dinge, über die nun wirklich gar nicht gern geredet wird. Über weniger Spitäler und über die Vorzüge einer weniger verästelten Gesundheitsversorgung. Es geht nämlich nicht nur ums Geld, sondern auch um eine Qualität, die nicht dann am höchsten sein muss, wenn ein Spital besonders nahe liegt. Qualität hängt von anderem ab.In einem Spital unübertroffene Hochwertigkeit anzubieten, heisst zwangsläufig, dem medizinischen Fortschritt gerecht und von der Konkurrenz nie abgehängt zu werden. Man muss kein Experte sein, um eine Vorstellung davon zu haben, was das bedeutet. Höchstmögliche Qualität setzt nicht nur laufend neue Investitionen in teure Geräte, sondern auch Spezialisten voraus. Aber ist es das, was ich unbedingt vor der eigenen Haustür brauche? Bin ich nicht auch zufrieden, wenn sichergestellt ist, dass der Rettungsdienst mich schnell genug dorthin bringt, wo für mein Weiterleben nur das Beste gut genug ist? Genügt es also nicht, vor Ort eine vorzügliche Rettungs- und Notfallversorgung zu haben?Das Gesundheitswesen ist unsäglich komplex. Auch kompliziert. Sehr schwer durchschaubar, weil die verschiedenen Interessengruppen im Laufe der Zeit ein System gezimmert haben, in dem vertrackte Organisationsformen und widersprüchliche Anreize bestehen. Es ist ein System, das Reformen sowie eine wirksame Kontrolle des Kostenwachstums behindert.Zu den Interessengruppen zählen freilich nicht nur Krankenkassen, Ärzte oder die Spitäler, sondern eben auch der Patient beziehungsweise die Bevölkerung. Soll politisch etwas in Gang gesetzt werden, ist auch dieses Volk eine Macht; obendrein eine besonders furchteinflössende. Jedenfalls hat die vor eineinhalb Jahrzehnten nicht wirklich intensiv geführte, sondern vom Volk eher abgewürgte Spitaldiskussion zur Abwahl des damaligen St. Galler Gesundheitsdirektors geführt und nahezu allen Politikern das Blut in den Adern gefrieren lassen. Auch die Journalisten waren in eine Art Schockstarre gefallen. Klar, gab es auch kritische Stimmen, aber im grossen Ganzen blieb man unbeweglich, riss ein Vierergespann uns alle mit.Quadriga lautete der Name des Gespanns. Die vier Spitalverbunde (eben Quadriga) schwärmten von einer wohnortnahen Gesamtversorgung dank eines «fein abgestimmten Räderwerks». Die hiervon ausgehende Zauberkraft lag darin begründet, dass Quadriga genau das versprach, was das Volk wollte. Die vorgeschlagene Strategie enthielt nur das Erfreuliche. Was niemand sehen wollte, wurde ausgeblendet.Fast vier Jahre nach der Volksabstimmung und dem beeindruckenden Volks-Ja zu einer Rundum-Erneuerung der Spitäler ist der Ausbau in Altstätten wegen Einsprachen blockiert und der Verwaltungsrat der Spitalverbunde vielleicht froh darüber. Das «fein abgestimmte Räderwerk», von dem vollmundig die Rede war, schützt nämlich nicht vor der erwarteten Kostenexplosion.Allerdings hätte man doch einiges von dem, was man heute weiss, bereits vor Jahren wissen können, hätte man nicht vorsätzlich die Augen verschlossen. Oder man hat, um nicht die Wählerschaft zu erzürnen, den Mund geschlossen gehalten. Heute besteht unter Fachleuten ein ziemlich breiter Konsens darüber, dass das St. Galler Spitalkonzept nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann und fürs gleiche Geld etwas viel Besseres zu haben wäre als Spitäler, die ein Flickwerk sind.Das unter veränderten Rahmenbedingungen befürchtete finanzielle Debakel, dem derzeit vor allem FDP und SVP mit Schrecken entgegensehen, macht es nötig, die Scheuklappen abzulegen und die Spitaldiskussion seriös und furchtlos in Angriff zu nehmen. Wie nötig dies ist, verdeutlichen auch die zwei externen Gutachten zum Altstätter Spitalprojekt. (Aktuell ist ein Lenkungsausschuss damit beschäftigt, zu den St. Galler Spitälern eine vertiefte Auslegeordnung auszuarbeiten. Das Parlament, dem das letzte Wort zukommt, soll die entsprechende Botschaft übernächstes Jahr behandeln können.)Dem Altstätter Spitalprojekt wird durch die externen Gutachter bescheinigt, wovor ausdrücklich der ehemalige SVP-Kantonsrat Herbert Huser und einige wenige mutige Menschen wie der frühere Chefarzt Wolfgang Kessler und seine Frau, die damalige Nationalrätin Margrit Kessler, gewarnt hatten. Allen voran die Industrie- und Handelskammer St. Gallen-Appenzell sowie die SVP hatten sich gegen die ungesunde Entwicklung gestemmt und ihr Nein zu Spitalausbauten vergeblich plausibel begründet, doch auch die SVP hat Fehler gemacht. So räumt Kantonsrat Marcel Dietsche heute ein, seine Partei und die CVP seien sich seinerzeit in die Haare geraten. Hätte man sich diesen Streit verkniffen, «wär’s vielleicht anders gelaufen».Davon abgesehen, dass am Altstätter Standort keine Landreserve besteht und die Anbindung an den öffentlichen Verkehr nicht wirklich befriedigt, gelten die zu erwartenden internen Abläufe als unzulänglich, die Wege in der Pflege als zu lang.Es ist ja logisch: Ein jahrzehntealtes, um- und ausgebautes Spitalgebäude kann unter keinen Umständen mit einem von Grund auf entwickelten, neu gebauten Spital konkurrieren. Weil dies so einleuchtend ist, wurde vor vier Jahren mit Sachzwängen argumentiert. Es sei für ein neues Spital gar kein Standort vorhanden. Ihn zu suchen und ein neues Spital zu planen und zu bauen, beanspruche viel zu viel Zeit. Doch die Zeit heilt nicht nur alle Wunden, sondern gibt uns auch die Chance, über ungelöste Probleme, unsere eigene finanzielle Schmerzgrenze und ein wirklich ideales (warum nicht sogar kantonsübergreifendes?) Räderwerk in der Spitalversorgung vielleicht doch noch ausgiebig nachzudenken.Vergehen Jahre seit einem einmal gefassten Entschluss (wie dem Volksentscheid vom Herbst 2014) , bleibt dessen Ausführung verwehrt, verändert sich – mit Blick auf die Spitäler – das Umfeld, tauchen neue Erkenntnisse auf (bzw. sind alte Erkenntnisse kein Tabu mehr), dann sollte es doch möglich sein, auch eine noch so klar zum Ausdruck gebrachte Haltung neu zu prüfen und – bei Bedarf – eine Korrektur vorzunehmen. Oder sind wir am Ende so stur, auf einem Volksentscheid zu beharren, nur weil es ein Volksentscheid ist? Privat und im Geschäftsalltag läuft es so: Erweist sich ein Entschluss als falsch, wird er umgestossen. Was in jedem Fall auch der Gesundheit dient.Gert Bruderer