02.01.2022

Das Rheintal so gründlich untersucht wie nie

Der ehemalige St. Galler Kantonsingenieur Urs Kost steuerte in der Rheinkommission acht Jahre lang das Hochwasserschutzprojekt Rhesi.

Von Marcel Elsener
aktualisiert am 02.11.2022
2017 hätten am Rhein die Bagger für das grösste Wasserbauvorhaben im Rheintal seit mehreren Generationen auffahren sollen. So hiess es zumindest im Herbst 2011, als Rhesi, das grenzüberschreitende Projekt zum Hochwasserschutz auf der 26 Kilometer langen Rheinstrecke zwischen Illmündung und Bodensee, der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Hindernisse und Widerstände waren jedoch von Anfang an grösser als erwartet, allein die Bestimmung der «Bestvariante» benötigte umfangreiche Abklärungen; 2018 lag endlich ein «Generelles Projekt» vor.[caption_left: «Wir brauchten Juristen, damit wir vor lauter Bäumen den Wald sahen», sagt Urs Kost, Mitglied Rheinkommission 2014-21. (Bild: pd)]Seit zehn Jahren läuft die Planung, seit acht Jahren ist Urs Kost federführend daran beteiligt – die ersten drei Jahre noch als St.Galler Kantonsingenieur, den Rest seit seiner Pensionierung 2016. Er vertrat den Kanton in der Gemeinsamen Rheinkommission der Schweiz und Österreichs, die wiederum der Internationalen Rheinregulierung vorsteht und damit das Projekt Rhesi leitet. Ende Jahr trat der in wenigen Tagen 71-Jährige zurück.Verfahren in zwei Staaten bringt viel Arbeit für die JuristenWann die Bagger tatsächlich auffahren, mag derzeit niemand vorherzusagen. «Ich wage keine Prognose», sagt Urs Kost. «Die nächste grosse Hürde ist der Staatsvertrag. Die Verhandlungen der Delegationen beider Länder wurden im November aufgenommen und werden im Februar fortgeführt. Dabei geht es um Fragen des Rechts, der Verfahren, der Finanzen und der Organisation.» Technisch sei das Projekt so weit auflagereif, doch fehlten noch die Anpassungen am Umweltverträglichkeitsbericht (UVB) und einiges «Rundherum», sagt Kost. Aufgrund der ersten Vernehmlassung, sprich eines breiten Mitwirkungsverfahrens, wurden viele Anregungen geprüft und bearbeitet, nun folgt eine neuerliche Vorprüfung des Projekts bei den Amtsstellen hüben und drüben des Rheins.Das genehmigungsfähige Projekt stehe nun vor der «grössten Herausforderung», erklärt Kost. «Das Verfahren in zwei Staaten ohne Fehler durchzuführen, ist ein Riesenchallenge. Das habe ich in meiner Karriere noch nie erlebt und sprengt alle anfänglichen Vorstellungen. Wir brauchten auf beiden Seiten externe Juristen, damit wir vor lauter Bäumen den Wald noch sahen.» Bevor das Projekt in beiden Ländern aufgelegt werden kann und ein zweites Mitwirkungsverfahren in den betroffenen Gemeinden startet, braucht es die Grundlage des Staatsvertrags, dem in der Schweiz National- und Ständerat und in Österreich National- und Bundesrat zustimmen müssen. Auf Schweizer Seite muss der St.Galler Kantonsrat zusätzlich den Kostenteiler zwischen Bund und Kanton genehmigen. Die Kosten, mehrfach nach oben korrigiert, werden derzeit auf 1,04 Milliarden Franken geschätzt. Bis heute sind 35 Millionen Franken Projektkosten angefallen, eingerechnet die Modellkosten und umfangreichen Untersuchungen. Kosten, die sich aufgrund des Schadenpotenzials von rund 10 Milliarden Franken im Fall einer grossen Überschwemmung rechtfertigen, wie die Verantwortlichen betonen. Abgesehen davon entsprächen die grösstenteils mehr als 100 Jahre alten Hochwasserdämme nicht mehr dem Stand der Technik.Auch wenn der Baustart zur Umgestaltung des Lebensraums am unteren Lauf des «grössten Wildbachs Europas» noch in weiter Ferne ist, hätten die Rhesi-Verantwortlichen viel erreicht, freut sich Urs Kost. «Wir haben nach langem Ringen alle Betroffenen einigermassen unter ein Dach gebracht. Dem ausgearbeiteten Projekt können Gemeinden, Wasserversorger, Landwirte, Umweltverbände und weitere Interessensgruppen wie Fischer, Reiter oder Hündeler mit mehr oder weniger Knurren zustimmen.» Nachdem anfänglich niemand am gleichen Strick zog und die Widerstände enorm waren, sei dies «die grösste Leistung eines schlagfertigen und tollen Teams», sagt Kost.Auswirkungen auf Ökologie und Grundwasser untersuchtBeharrlich und anständig habe die rund um den österreichischen Projektleiter Markus Mähr zusammengestellte Gruppe alle Skepsis sowie allerhand Beschimpfungen überwunden und Vertrauen geschaffen – beispielsweise beim Durchbruch mit den empfindlichen Wasserversorgern: «Dass wir die gegenseitigen Achillesfersen offenlegten und einen Deal erreichten, war vielleicht der wichtigste Moment.» Anspruchsvoll waren (und sind) auch die Verhandlungen mit den Umweltverbänden. Doch habe Rhesi für alle Beteiligten «viele Erkenntnisse gebracht», sagt Kost und nennt als Beispiel die Boden- und Grundwasseruntersuchungen. «Gründlicher ist der Rheinperimeter noch nie untersucht worden, im Untergrund, Obergrund, Zwischengrund …» Nebst geotechnischen Abklärungen gab es Luftaufnahmen aller Gebietsabschnitte, wissenschaftliche Modellversuche in Dornbirn, Wien und Zürich sowie grossflächige Dokumentationen von Pflanzen und Tieren bis hin zu den Fisch- und Muschelbeständen am Alten Rhein.Zuletzt wurden im Frühling 2021 sogenannte Dekolmationsversuche unternommen: Ein Bagger – auf einer schwimmenden Plattform im Rhein – riss einen Meter tief auf 150 Metern die Flusssohle auf, um die Auswirkungen von Sohlenveränderungen auf den Pegelstand und die Qualität des Grundwassers zu prüfen. Weil rund zwei Drittel der 300000 Rheintalerinnen und Rheintaler ihr Trinkwasser aus dem Grundwasserbegleitstrom des Rheins beziehen, ist dies ein zentraler und heikler Punkt des gesamten Projekts.Statt des Gemeinwohls zählt die eigene BetroffenheitFür Bauingenieur Kost bedeutete das Altersmandat im Rheintal ein Zurück zu den beruflichen Wurzeln: Seine Diplomarbeit an der ETH Zürich unter deren Wasserbauprofessor Daniel Vischer galt einem Pumpspeicherwerk im Jura. Als Mitarbeiter und ab dem Jahr 2000 Leiter des St. Galler Tiefbauamts und Kantonsingenieur hatte er hauptsächlich mit dem Strassenbau zu tun; in seine Amtszeit fielen der Bau der Umfahrungsstrasse Bazenheid, der A53 zwischen Jona und Schmerikon, des Autobahnanschlusses St. Gallen–Winkeln oder der Taminabrücke. Was Kost im Fall des «Jahrhundertprojekts» Rhesi zu schaffen machte, stellt er auch bei anderen Bauvorhaben fest: «Die Verfahren werden immer langwieriger, komplizierter und aufwendiger. Wir Ingenieure sind im Termindruck, aber überall, wo es klemmt, fehlt uns der Zugriff.» Die Mitwirkungsverfahren erforderten unzählige Antworten und seien bei Grossprojekten «kaum mehr zu bewältigen», meint Kost. «Ich bin nicht weltfremd und erkenne den Zeitgeist. Aber früher haben die Leute noch eher etwas akzeptiert, weil sie das Gemeinwohl im Sinn hatten – und nicht nur die Betroffenheit, die heute immer mehr zu zählen scheint.» So seien viele der bereits in seiner Amtszeit angezettelten Projekte nach wie vor hängig, wie die S18 zwischen St.Gallen und Vorarlberg, die Sanierung und der Ausbau der Stadtautobahn samt Teilspange mit Zubringer Appenzellerland oder eine Verkehrslösung für Rapperswil-Jona. Freilich bleibe er über die nun definitive Pensionierung hinaus interessierter Beobachter, aber ohne sich einzumischen.Auf die Rhesi-Entwicklung ist Kost gespannt, sein Engagement hat er nie bereut. Immerhin sei das Vorhaben der Bevölkerung nun ein Begriff. Hörte er in den Anfangsjahren noch öfters den Spruch, ob mit Rhesi eine Serviertochter oder Kuh gemeint sei, wisse heute «jeder und jede, um was es geht». Die Hochwassergefahr ist der Rheintaler Bevölkerung seit jeher bewusst; dass das Einzugsgebiet des Rheins bei den verheerenden Unwettern vom Juli 2021, die in deutschen Bundesländern Verwüstungen und Todesopfer zur Folge hatten, verschont blieb, war laut Kost «nur Glück».Kosts Nachfolger als St. Galler Vertreter in der Gemeinsamen Rheinkommission seit 1. Januar 2022 ist kein Ingenieur, sondern sinnigerweise ein Jurist – Martin Anderegg, Leiter Recht und Umweltverträglichkeitsprüfung im kantonalen Amt für Umwelt.

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.