19.10.2022

Das Rheintal feiert, die SBB mahnen

Das Rheintal hängt an seinem Auto. Das war gestern auch beim Spatenstich zum Bahn-Doppelspurausbau spürbar.

Von Aylin Erol/Alexandra Gächter
aktualisiert am 02.11.2022
Es ist 10.25 Uhr am Bahnhof Oberriet. Auf den Perrons warten fünf Personen. Um 10.29 Uhr wird hier zuerst eine S-Bahn Richtung Sargans und um 10.33 Uhr eine weitere in Richtung St. Gallen halten. Auf Mittwoch hatten die SBB die Presse hierhin zum Spatenstich für den Bau der neuen Doppelspurabschnitte eingeladen. Zähneknirschend. Denn bis zu dieser Veranstaltung war es ein langer, harziger Weg, auf dem sich der Kanton St. Gallen und die SBB auf der Zielgeraden noch in die Haare geraten sind.Es war ein langes Hin und HerNicht umsonst greift Regierungsrat Beat Tinner bei seiner Rede nach einem dicken Dossier. Er hat die vielen Vorstösse, die St. Galler Parlamentarierinnen und Parlamentarier seit 2001 für den Ausbau der Rheintallinie eingereicht haben, ausgedruckt und wedelt jetzt da­mit herum. Wie viele Vorstösse es insgesamt waren, bis der Ständerat das Vorhaben 2012 schliesslich abnickte und auch das Volk 2014 die Finanzierung guthiess, weiss Tinner selbst nicht mehr genau. «Ich müsste nachzählen. Aber bestimmt fünf bis sieben.» Kurz vor der Ziellinie wollten die SBB dem Halbstundentakt, der im Dezember 2024 zwischen St. Gallen und Sargans eingeführt werden soll, einen Riegel schieben. In einem unschein­baren Nebensatz teilten sie im Frühling 2022 mit, dass sie nach den Bauarbeiten vorerst nur einen «nachfrageorientierten Halbstundentakt» anbieten möchten, also zu Stosszeiten. Grund dafür seien Sparmassnahmen.Die St. Galler Kantonsratsfraktionen stellten sich bei dieser Nachricht quer. Schliesslich musste Bundesrätin Simonetta Sommaruga eingreifen – und sicherte der Region gleichzeitig den gewünschten durchgehenden Halbstundentakt zu.Seitenhiebe gegen die SBBBeat Tinner, der sich ebenfalls jahrelang für den Ausbau eingesetzt hat, zeigt sich am Mittwoch deshalb feierlich: «Heute ist nicht nur ein freudiger Tag für Oberriet oder das Rheintal, sondern auch fürs Werdenberg, ja den ganzen Kanton St. Gallen.» Ein Halbstundentakt sei wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der Region. Nicht nur Pendlerinnen und Pendler sollen künftig besser angebunden sein, auch der Tourismus soll damit gefördert werden.Einen Seitenhieb gegen die SBB kann sich der FDP-Politiker auf dem Podest nicht verkneifen: «Besten Dank, dass die SBB eingelenkt haben.» Er sei froh, habe Simonetta Sommaruga am Ende ein Machtwort gesprochen. Dann ergreift Daria Martinoni, Leiterin der SBB Region Ost, das Mikrofon. Ihre ersten Worte sind bezeichnend: «Was soll ich noch sagen?» Die SBB werden ihren Beitrag dazu leisten, das Rheintal noch besser an die ganze Schweiz anzubinden. Dann geht Martinoni dazu über, die negativen Konsequenzen des Ausbaus für die nahe Zukunft zu beschreiben. Lärm und vorübergehende Einschränkungen liessen sich nicht vermeiden. Und nicht zuletzt wird die Strecke zwischen Buchs und Altstätten ab Ende Februar 2023 für Monate gesperrt. Ersatzbusse werden eingesetzt.«Was auch bleibt, ist der Spardruck auf die SBB. Wir werden den Ausbau durchführen, und der Halbstundentakt wird eingeführt. Aber wir sind darauf angewiesen, dass das neue Angebot dann auch genutzt wird.» Erster Platz geht noch immer ans AutoBefürchten die SBB nach wie vor leere Züge im Rheintal? Auf Nachfragen reagiert Martinoni ausweichend. Sie sagt lediglich: «Die SBB wissen aus Erfahrung, dass es meist ein bis drei Jahre dauert, bis ein neues Angebot genutzt wird.» Aber es sei kein Geheimnis, dass es im Rheintal einen tieferen sogenannten Modalsplit gebe als in anderen Regionen. Anders gesagt: Im Rheintal sind gemäss Beat Tinner etwa 70 Prozent der Bevölkerung hauptsächlich mit dem Auto unterwegs und nur etwa 30 Prozent mit dem öffentlichen Verkehr. Diese Tatsache beunruhigt Beat Tinner allerdings nicht. «Damit die Leute häufiger den ÖV nehmen statt das Auto, braucht es zuerst gute und regelmässige Verbindungen», ist er überzeugt.Ein kurzer Rundgang auf dem Bahnhof Oberriet zeigt, dass auch einige Anwohnerinnen und Anwohner seine Meinung teilen. «Endlich ist es so weit!», ruft Zita Baumgartner, angesprochen auf den zukünf­tigen Halbstundentakt. Die 72-Jährige ist gut informiert über das neue Bauprojekt, das am Mittwoch direkt vor ihrer Haustür eröffnet wurde. Die Rentnerin ist zwar nicht im Rheintal aufgewachsen, nahm aber bereits als Kind den Zug, wenn sie ihre Grosseltern in Oberriet besuchte. «Schon damals gab es nur ein Gleis. Es kann doch nicht sein, dass 70 Jahre lang nichts gemacht wurde hier im Rheintal!»Leer seien die Züge aber teilweise schon ausserhalb der Stosszeiten, gibt die 82-jährige Angela Lüchinger aus Oberriet zu und schaut sich auf dem Perron um. Um 13.20 Uhr sammeln sich hier immerhin schon ganze zehn Personen – doppelt so viele als drei Stunden zuvor. Und ein Blick in die haltende S-Bahn zeigt: Leer ist sie nicht. Aber eben auch nicht sehr voll. Auf den Strassen und am Bahnhof ist deshalb immer wieder zu hören: «Ich selbst fahre zwar nicht so viel Zug, aber einen Halbstundentakt braucht es bei uns schon.»Vielleicht müssen nicht nur mehr Rheintalerinnen und Rheintaler pendeln, sondern auch mehr Auswärtige ins Rheintal befördert werden. Das erhofft sich etwa die 32-jährige Sarah-Jane Becker. Sie führt in Mogelsberg ein eigenes Tattoo-Studio. Ihre Kundinnen und Kunden lassen sich manchmal aber auch bei ihr Zuhause in Oberriet tätowieren. Dafür nehmen sie meistens den Zug. Becker selbst pendelt jedoch mit dem Auto. «Aber mit dem Halbstundentakt wird Zugfahren auch für mich attraktiver. Wahrscheinlich werde ich ab 2024 öfter den ÖV nutzen.»Dank Streckensperrung wesentlich kürzere BauzeitAuf dem Abschnitt zwischen Oberriet und Rüthi finden die Bauarbeiten vorwiegend während einer achtmonatigen Totalsperre der Bahnstrecke Altstätten – Buchs vom 27. Februar bis 29. Oktober 2023 statt. Zwischen Buchs und Sargans werden die Arbeiten während laufendem Betrieb am Tag sowie während Streckensperrungen in der Nacht und an einzelnen Wochenenden durchgeführt. «Im Vergleich zum ursprünglichen Bauprogramm konnten die Einschränkungen tagsüber um drei Monate verkürzt werden», sagt Daria Martinoni. Sie dauern von Oktober 2023 bis Juli 2024. Nachts dauern die Einschränkungen un­verändert von Oktober 2023 bis Oktober 2024. Von den Arbeiten, die die SBB während den zweieinhalb Jahren in der Nacht realisieren müssen, sind die Anwohnenden je nach Bauphase unterschiedlich stark betroffen. An einigen Wochenenden ist die Strecke zwischen Buchs und Sargans komplett gesperrt. Voraussichtlich sind die folgenden Wochenenden betroffen: jeweils Samstag und Sonntag, 18. und 19. November 2023, 16. und 17. März 2024 sowie 7. und 8. September 2024.Während der Streckensperrungen bieten die SBB den Reisenden Busverbindungen an. Empfohlen wird, vor der jeweiligen Fahrt den Onlinefahrplan zu prüfen und genügend Zeit einzuplanen. Reisezeitverlängerungen um bis zu 30 Minuten, zusätzliche Umsteigevorgänge sowie alternative Reiserouten lassen sich nicht vermeiden, wie die SBB mitteilen. 

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