12.09.2022

«Das Pilzwachstum ist explodiert»

Wegen des trockenen Sommers waren in den Ostschweizer Wäldern kaum Pilze zu finden. Das ändert sich jetzt.

Von Aylin Erol
aktualisiert am 02.11.2022
Steinpilze, Schweinsohren, Eierschwämmli – diese Pilzsorten suchte man bis vor kurzem vergeblich in den Ostschweizer Wäldern. Und das, obwohl sie in den Jahren davor bereits im Juli oder August aus dem Boden schossen. Grund dafür war der heisse, trockene Sommer, unter dem die ganze Schweiz ächzte – gar keine guten Bedingungen für Pilze, die es zwar warm, aber eben auch feucht mögen. Das weiss Heidi Moser, Co-Leite­rin des Botanischen Gartens St. Gallen und Pilzkontrolleurin in St. Gallen. Sie erklärt: «Viele Pilzarten leben in Symbiose mit Bäumen. Sie geben den Bäumen Wasser und Nährstoffe und erhalten im Gegenzug Zucker.» Da auch die Wälder unter den extremen Wetterbedingungen gelitten hätten, sei es deshalb keine Überraschung, dass im August in der Ostschweiz kaum Pilze zu finden waren.Der Regen brachte grosse VielfaltNun hat sich das Blatt allerdings gewendet – dem Regen sei Dank. «Das Pilzwachstum ist in dieser Woche regelrecht explodiert», sagt Moser. Ihre Pilzkontrollstelle habe seit Montag deshalb alle Hände voll zu tun. «Man kann sagen, die Pilzsaison hat erst jetzt begonnen!» Ein ähnliches Bild zeichnet auch Rolf Schulthess, Pilzkon­trolleur für Thurgauer Gemeinden rund um Amriswil. Er schwärmt: «Im Thurgau kann man momentan eine Artenvielfalt sehen wie sonst selten!» Nicht nur bekannte Speisepilze wie der Steinpilz schiessen derweil aus dem Boden. Auch al­lerhand Nichtspeisepilze seien gar schon von den Waldwe­gen aus zu bestaunen. «Gerade im Vergleich zum Vorjahr ist  das Pilzaufkommen in diesem Jahr wirklich sensationell», sagt Schulthess. 2021 sei es lange zu kalt gewesen. «Der Regen, der vor ein paar Wochen einsetzte, war dringend nötig, führte aber nicht sofort dazu, dass Pilze anfingen zu spriessen», sagt Heidi Moser. Die Natur habe noch ein paar Tage gebraucht, um sich von der Trockenheit zu erholen. «Jetzt aber sind die Umweltbedingungen für viele Pilzarten optimal.»Klimawandel beeinflusst Pilzvorkommen starkTrotz der Freude über die diesjährige Artenvielfalt blickt Moser mit gemischten Gefühlen in die Zukunft: «Pilze reagieren ganz besonders empfindlich auf den Klimawandel.» Ein, zwei Grad mehr oder weniger könnten entscheidend dafür sein, welche Pilzarten im Wald vorzufinden sind. «Ein gutes Beispiel dafür ist der Anhängselröhrling», sagt Moser. Der essbare Pilz, der aufgrund seiner Form und Farbe auch «Gelber Steinpilz» genannt wird, sei früher in der Ostschweiz sehr selten vorgekommen. Inzwischen treffe man ihn aber immer öfter in der Region an. Andere Pilzarten hingegen würden seltener. Was diese Veränderungen langfristig für die Ökosysteme bedeuten, in denen Pilze ein wichtiger Bestandteil sind, sei schwer einzuschätzen. «Die Wissenschaft weiss noch immer relativ wenig über Pilze.»Dieses Mysterium mache für viele aber auch gerade die Freude an den bunten Lebewesen aus, findet Rolf Schulthess: «Das Pilzlen lebt von den Geschichten und Mythen, die über die Pilze weitererzählt werden.» Den zunehmenden Hype ums Pilzesammeln kann Schulthess deshalb gut verstehen. Es sei allerdings ein zweischneidiges Schwert. «Einerseits ist es schön, dass es immer mehr Leute gibt, die sich für die Natur und den Pilz interessieren.» Andererseits nehme so auch das Risiko zu, dass die Wälder unter dem Menschenandrang litten.Der Pilzlen-Hype verlangt nach AufklärungHeidi Moser beobachtet, dass vor allem zunehmend junge Leute sich für das Pilzlen inte­ressieren. Aber auch Wildkräutersammeln liege im Trend. «Es ist ja auch verständlich: Man ist in der Natur und erholt sich. Als schöner Nebeneffekt kann man sich beim Sammeln – ja beim ‹Jagen› könnte man sogar sagen – voll und ganz in ein Themengebiet vertiefen.» Moser glaubt, dass man dem Trend nichts entgegensetzen könne – ausser Aufklärung. «Es ist wichtig, dass man beim Pflücken nicht das unterirdische Pilzgeflecht beschädigt und alte sowie ganz junge Pilze stehen lässt.» Ausserdem solle man gerade dann, wenn man nicht sicher wisse, um welche Pilzart es sich handle, nur ein, zwei schöne Exemplare mitnehmen, und nicht gleich den ganzen Bestand abgrasen. «Auf der Pilzkontrollstelle können diese Pilze bestimmt werden. Wenn es sich tatsächlich um Speisepilze handelt, kann man immer noch an den Ort zurückkehren.»  Generell empfehle sie, das Sammelgut immer bei einer Kontrollstelle überprüfen zu lassen, damit giftige Pilze aussortiert werden können. Ein Verzeichnis aller Kontrollstellen ist unter vapko.ch zu finden.

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