13.07.2022

«Das Personal brennt aus»

Massiv mehr Fälle, lange Wartezeiten, aggressive Eltern: Die Situation auf der Notfallstation am Ostschweizer Kinderspital spitzt sich zu.

Von Regula Weik
aktualisiert am 02.11.2022
«Und Sie behandeln jetzt sofort meinen Sohn.» Der Mann ist gross und kräftig und macht einen Schritt auf Ivo Iglowstein zu. Eine brenzlige Situation, eine Bedrohung, wie sie der medizinische Leiter der Notfallstation des Ostschweizer Kinderspitals immer wieder erlebt. Iglowstein zögert nicht lange. Er bittet den Mann, sich zu beruhigen, er werde in wenigen Minuten zurückkehren, dann verlässt er zusammen mit der Pflegefachperson den Raum. Was war vorgefallen? Was hatte den Vater derart in Rage versetzt? Iglowstein hatte den Vater über den Zustand seines Sohnes aufgeklärt. Und ihm auch gesagt, das Kind sei in keiner Weise in einer bedrohlichen Situation. Der Bub war von einer Zecke gebissen worden. Die Eltern hatten das Tier entfernt, doch sein Kopf steckte noch immer in der Haut des Buben, die Stelle war leicht gerötet. Die Familie hatte sich wenige Stunden zuvor im Wald aufgehalten. Iglowstein kehrt ins Behandlungszimmer zurück. Der Vater verhält sich ruhig. Der Arzt behandelt den Buben. Wenige Minuten später verlassen Vater und Sohn die Notfallstation und das Kinderspital. Aggressive und drohende ElternDer Leiter der Notfallstation schildert die Situation sachlich, kein Unterton von Unverständnis oder gar Verärgerung über das Verhalten des Vaters. Nur so viel: «Der Umgangston der Eltern ist aggressiver, drohender und fordernder geworden.» Längst nicht von allen, fügt er rasch an. Der Grossteil der Eltern sei dankbar für die Hilfe. «Aber die Anspruchshaltung hat sich schon verstärkt, wie auch in anderen Lebensbereichen.»Pascal Müller, Chefarzt Adoleszentenmedizin und Pädiatrische Psychosomatik am Ostschweizer Kinderspital, stimmt seinem Kollegen zu und ergänzt: «Subjektiv ist ein krankes oder verletztes Kind für die Eltern immer ein Notfall.» Objektiv sehe es oft anders aus. Doch die Kompetenz, etwas auszuhalten, und das Vertrauen, dass es schon gut kommt, sei vielen abhandengekommen. Und auch die Geduld, warten zu können, sagt Müller. «Wenn der Kinderarzt den Eltern frühestens in drei Stunden einen Termin anbieten kann, mögen viele nicht so lange ausharren, packen das Kind ins Auto und fahren zum Spitalnotfall.» Wo sie dann häufig ebenso lange oder gar noch länger warten müssen, wenn Erkrankung oder Verletzung des Kindes nicht bedrohlich sind.«Warntafel» am Eingang zum Notfall«Unser Notfall ist chronisch überlastet. Wir werden überschwemmt», sagt Guido Bucher, Direktor und Vorsitzender der Spitalleitung des Ostschweizer Kinderspitals. Und das nicht erst seit ein paar Tagen oder Wochen. «Die Patientenfrequenzen sind seit über einem Jahr anhaltend hoch.»  Und so werden Eltern heute beim Eingang zur Notfallstation und auch auf der Website des Kinderspitals «gewarnt»: «Wegen der deutlichen Zunahme an Notfallpatienten kommt es aktuell oft zu langen Wartezeiten.» Und sie werden gebeten, nur «bei schweren und dringenden Erkrankungen und Verletzungen» den Notfall am Spital aufzusuchen. Etwa, wenn ein Kind nach einem Sturz auf den Kopf verwirrt ist. Wenn es ganz schwer atmet. Wenn nach einem Unfall der Verdacht auf schwerere Verletzungen vorliegt. Wenn ein epileptischer Anfall lange andauert. Die Liste liesse sich noch lange fortsetzen.Doch wichtig zu wissen ist: Eine speziell ausgebildete Notfallpflegende nimmt eine erste Beurteilung der Patientinnen und Patienten vor. Kinder und Jugendliche mit schwerwiegenden Erkrankungen oder Verletzungen werden sofort behandelt, andere müssen sich gedulden. Gelegentlich verstehen Eltern denn auch nicht, weshalb sie mit ihrem Kind länger warten müssen als andere. Die Ärzte sagen: Viele Erkrankungen und Verletzungen könnten auch beim Haus- oder Kinderarzt oder erst am Folgetag behandelt werden.Die Frage, ob die Zunahme an Bagatellfällen der Grund für die Überlastung der Notfallstation sei, verneinen sie aber rasch. Das greife zu kurz. Die steigende Zahl von Patientinnen und Patienten sei nur eine mögliche Erklärung dafür. Eine andere ist die Personalsituation. Abgänge und kaum BewerbungenDie Belastungssituation für das Personal sei extrem hoch, insbesondere in der Pflege, sagt Notfallleiter Iglowstein. «Das Personal lebt in einer permanenten Stresssituation.» Erst wegen der Pandemie, nun wegen der massiven Zunahme von Patienten. Hinzu kämen Spät-, Nacht- und Wochenendschichten. Und das belastende Gefühl, die eigenen Ansprüche an die Qualität der geleisteten Arbeit nicht mehr in jeder Situation erfüllen zu können – und das in ihrem Wunschberuf. Das könne demotivierend sein und bleibe nicht ohne Folgen: «Wir haben einige Kündigungen auch von erfahrenen, langjährigen Mitarbeiterinnen.» 85 Prozent der Mitarbeitenden sind Frauen. Es sei äusserst schwierig, qualifiziertes Personal zu finden, sagt Iglowstein. «Wir schreiben fünf Stellen aus, es gehen zwei Bewerbungen ein.» Die Tatsache, dass keine rasche Besserung der Personalsituation in Sicht ist, treibt auch Spitaldirektor Bucher um: «Der Druck auf die Verbleibenden steigt. Die Leute brennen aus.» Er ist in stetem Austausch mit den anderen Kinderkliniken in der Schweiz – und überall tönt es gleich. Erst kürzlich sei eine Anfrage aus Basel eingegangen, ob das Ostschweizer Kinderspital ihnen Personal für den Notfall habe.Sorge bereitet Bucher auch die zunehmende Aggressivität der Eltern, die Beschimpfungen und Bedrohungen des Personals. «Die Situation hat sich deutlich verschlimmert. Das Kinderspital ist nicht mehr heile Welt.» Iglowstein bestätigt dies. Er muss es wissen: Er arbeitet seit 20 Jahren als Kinderarzt.  Was tut das Kinderspital für den Schutz der Mitarbeitenden? Es gibt interne Schulungen, kritische Situationen werden besprochen. Und in gefährlichen Situationen kann per Knopfdruck die Polizei alarmiert werden. Gleichzeitig wird versucht, Kinder und Eltern während der Wartezeit abzulenken und so Unruhe, Nervosität und Ängste etwas abzufedern – indem über die Bildschirme Fische schwimmen und die Spitalclowns auch auf der Notfallstation eingesetzt werden. Für den Leiter der Notfallstation sind die andauernd hohen Patientenzahlen auf seiner Station auch Ausdruck davon, dass das Gesundheitssystem generell überlastet ist. Auf Termin warten? Nein, dann ab auf den NotfallIglowstein sagt: Wenn der Kinderarzt in der Region kurzfristig keinen freien Termin hat oder wenn es gar keinen Kinderarzt mehr in der Nähe gibt, dann werden typische Notfälle einer Kinderarztpraxis wie kleine Wunden oder starke Ohrenschmerzen zu Spitalnotfällen. «Wenn es regional keine Alternative gibt, wenn die lokale Versorgung nicht funktioniert oder überlastet ist, dann führt der Weg immer auf den Notfall im Spital – selbst dann, wenn die Eltern dafür eineinhalb Stunden Auto fahren müssen.» Iglowstein erzählt von einem Buben, der ein Augenproblem hatte. Da der Augenarzt in der Region erst in zwei Monaten einen freien Termin hatte, fuhren die Eltern noch gleichentags mit ihm zur Notfallaufnahme am Kinderspital. «Wir fangen andernorts fehlende Kapazitäten auf.» Die Grundversorgung sei nach all den Eingriffen in die Gesundheitsversorgung in mehreren Regionen im Kanton in einer schwierigen Situation, so der Notfallmediziner. Chefarzt Müller ergänzt: «Die aktuelle, prekäre Situation auf unserer Notfallstation können wir als Kinderspital nicht alleine lösen.» 

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