03.04.2022

Das Leben in Haft: Zwei Insassen erzählen

Am Morgen schliesst der Betreuungsdienst die Türe auf, am Abend wieder zu: Wie ist der Alltag in der Vollzugsanstalt Saxerriet? Der 64-jährige Roberto Kasper und der 26-jährige Damian B. über Zeit, Reue und Perspektiven.

Von Jolanda Riedener
aktualisiert am 02.11.2022
Punkt 6.15 Uhr schliesst ein Betreuer die Tür von aussen auf. Er kommt so weit in das zwölf Quadratmeter grosse Zimmer hinein, bis er sieht, dass alles in Ordnung und Roberto Kasper wach ist. «Guten Morgen», sagt der Mitarbeiter des Betreuungs- und Sicherheitsdienstes (BSD) Saxerriet. Der 64-jährige Kasper grüsst zurück. Danach dreht er sich noch einmal auf die Seite, er muss erst kurz nach sieben Uhr zur Arbeit. Ein Haus weiter, gleicher Ablauf. Auch Damian B., der eigentlich anders heisst, versucht weiterzuschlafen. Wie ist es, von einer fremden Person am Morgen geweckt zu werden? «Am Anfang war es schon seltsam. Heute habe ich mich daran gewöhnt und finde es okay.» Inzwischen stellt er sich einen Wecker, bevor der BSD-Mitarbeiter hereinkommt. Beide verzichten für etwas mehr Bettwärme aufs Frühstück. Ansonsten haben der 26-jährige Damian B. und der 64-jährige Roberto Kasper kaum etwas gemeinsam. Damian B. und Roberto Kasper sind Insassen der Strafanstalt Saxerriet in Sennwald. Die beiden Männer belegen je einen von 118 Plätzen im offenen Vollzug. Die Sicherheitsvorkehrungen der Strafanstalt sind vergleichsweise gering. Ziel ist es, den Aufenthalt zukunftsorientiert zu gestalten und Rückfälligkeit zu vermeiden. Ein geregelter Arbeitstag gehört ebenso dazu wie Weiterbildungsmöglichkeiten, soziale Kontakte oder Freizeitbeschäftigungen. Teil der Strafanstalt ist ausserdem eine geschlossene Übergangsabteilung mit 17 Plätzen.Macht den Lehrabschluss in der GefängniskücheDamian B. hat sich in der Zwischenzeit umgezogen und beginnt in der Küche des Saxerriets Gemüse zu rüsten. Wie alle Insassen muss auch er arbeiten, so steht es im Gesetz. Am Anfang sei er manchmal laut geworden in der Küche. Gerade wenn es hektisch zu und her ging. Mittlerweile habe er seine Situation akzeptiert und komme gut zurecht. Hier wiederholt Damain B. das dritte Lehrjahr als Koch. Im Mai beginnen die Lehrabschlussprüfungen (LAP). «Die Lehre ist für mich das Wichtigste», sagt er. Dass er diese Chance bekomme, schätze er sehr. Montags besucht er dafür die Berufsschule St. Gallen. Es ist der einzige Tag pro Woche, an dem er sein Smartphone zu Ausbildungszwecken bei sich haben darf.  Wieder in die Schule zu gehen, war für ihn aber eine grosse Umgewöhnung. Den Mitschülerinnen und Mitschülern hat er von Anfang an die Wahrheit gesagt. Das habe sich gelohnt, er sei gut in der Klasse aufgenommen worden: «Das ist nicht selbstverständlich.» Er beschreibt sich als introvertierten, ruhigen Typ. Wenn er erzählt, wählt er seine Worte behutsam.  Beim ersten Versuch hat er die LAP nicht bestanden. Damals wusste er, dass er bald ins Gefängnis gehen muss. Er habe versucht, die Zeit draussen so gut es ging zu geniessen und sich mehr auf Freunde und Familie statt auf die Prüfungen konzentriert. 2017 verprügelte er einen Fremden im Ausgang. Der Mann war etwas älter als er. Sein Körper wird steif, während er erzählt: «Dass er keine bleibenden Schäden oder eine Behinderung davongetragen hat, war grosses Glück.» Es war Alkohol im Spiel. Eine Nacht wie ein Filmriss. «Ich weiss nicht, was passiert ist. Nur, was mir andere von diesem Vorfall erzählt haben.» Er sei eigentlich ein friedlicher Typ und halte nichts von Gewalt. Was an diesem Abend in ihm vorgegangen war, wisse er bis heute nicht. «Es ist ein Scheiss passiert – aber richtig», sagt er. Am liebsten würde er das rückgängig machen. «Aber das geht leider nicht.» Für seine Fehler stehe er gerade. «Ich versuche, das Beste aus meiner Zeit hier zu machen», sagt er. Heisst, den Lehrabschluss und Weiterbildungen zu machen. Damian B. ist seit August 2020 im Saxerriet: Wegen versuchter vorsätzlicher Tötung erhielt er fünf Jahre, wegen Drogenhandels und Drogenbesitz zwei weitere. Wenn er zwei Drittel der Strafe verbüsst hat und alles gut läuft, kommt er voraussichtlich im Frühling 2025 raus. Falls er für ein Arbeitsexternat zugelassen wird, könnte er bereits im Juli 2024 ausserhalb der Strafanstalt arbeiten. Das bedeutet, er könnte als Koch arbeiten, müsste die freie Zeit und die Nacht aber in einer Vollzugsanstalt verbringen. Am liebsten würde er dafür zu seinem früheren Lehrbetrieb in die Region Winterthur zurückkehren, wo er auch aufgewachsen ist.Alle Insassen treffen beim Essen aufeinanderAn diesem Tag ist keine Schule. Damian B. macht mit dem Küchenteam wie jeden Tag von 10.30 bis 11 Uhr Mittagspause. Danach, um Punkt 11.45 Uhr, fassen die ersten Insassen ihr Essen. Manche verschlingen es und verlassen den Speisesaal nach wenigen Minuten. Andere holen eine zweite Portion. Auch Roberto Kasper sitzt beim Zmittag. «Das Essen hier ist super», schwärmt er. Zweimal Fleisch pro Tag, das könne er sich draussen nicht leisten. Das Mittagessen ist einer der wenigen Momente, in denen alle Insassen zusammenkommen. Es wird kontrolliert, ob jemand fehlt. Einer ist nicht gekommen, ohne sich abzumelden. Die BSG-Mitarbeitenden suchen und finden ihn später. Der offene Vollzug sei nicht unbedingt einfacher als eine geschlossene Haft: «Es verlangt von den Insassen viel ab», sagt Berthold Ritscher, Teamleiter Sozialdienst auf dem Weg zu seinem Büro und lässt dabei den Blick über die Bergkulisse schweifen. Durchschnittlich sind die Insassen etwa zwei Jahre im Saxerriet. Einige sind ein paar Wochen und manche viele Jahre hier. Dass sie etwa nach einem bewilligten Urlaub nicht mehr zurückkommen, passiere hin und wieder, sagt er. In der Regel melden sie sich dann aber bald, weil sie wissen, dass sie ihre Strafe absitzen müssen. Dass jemand gar nicht mehr zurückkommt und sich ins Ausland absetzt, ist selten. Der grosse Ansturm zum Mittagessen ist vorüber. Damian B. hat Putzdienst in der Küche. Bevor sich Roberto Kasper für die Arbeit wieder umzieht – im Speisesaal ist Arbeitskleidung nicht erlaubt – geht er auf sein Zimmer und raucht eine Zigarette.In Spanien im Gefängnis: «Das war hart»Der gebürtige Thurgauer scherzt mit den Mitarbeitenden, ist freundlich und aufgestellt. Er habe überhaupt kein Problem damit, hier zu sein: «Ich empfinde das nicht als Gefängnis.» Er verbüsst seine zweite Strafe im Saxerriet. Vor 13 Jahren war er zwei Jahre hier, nachdem er zuvor drei Jahre in einem spanischen Gefängnis sass. Er schmuggelte 3,5 Kilogramm Kokain und wurde in Spanien erwischt. Damals hatte er Schulden, Alkoholprobleme und eine Ex-Frau, die ihm das Sorgerecht des gemeinsamen Sohns entziehen wollte. Heute hat er ein gutes Verhältnis zum erwachsenen Sohn, sie telefonieren jede Woche. Im Gegensatz zum Bergpanorama im Saxerriet gab es in Spanien nur Beton und Himmel zu sehen. Kasper sagt: «Das war schlimm: 120 Männer auf einem Haufen. Ohne Tagesstruktur. Ohne Arbeit.» Aggressionen waren absehbar. Einmal habe er gesehen, wie jemand in der Dusche mit einem Messer abgestochen wurde. «Von den anderen Häftlingen wurde ich respektiert, weil ich übersetzt habe», sagt Kasper, der Spanisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Englisch und Deutsch spricht. An vieles aus dieser schwierigen Zeit erinnert er sich heute kaum mehr: «Ich habe es verdrängt.»Lieber etwas Kokain als ein Glas RotweinNun sitzt er erneut für 20 Monate. Jemand habe ihn verpfiffen und behauptet, er verkaufe Drogen. «Als sie mit dem Rammbock bei mir eingefahren sind, lag auf dem Tisch etwas mehr Kokain als für den Konsum üblich», sagt er. Drogen konsumiert habe er schon immer. Aber nie gedealt. Er werde wohl auch wieder welche nehmen, wenn er draussen ist. Er geniesse Drogen wie andere ein Glas Wein. Süchtig sei er deswegen nicht, sagt er. Er sei psychisch genug stark und Kokain mache nicht körperlich abhängig. Es sei ihm bewusst gewesen, dass er etwas Illegales tue und welche Konsequenzen das haben kann, sagt aber: «Mit meinem Konsum habe ich niemandem geschadet.» In Zukunft will er nur noch kleinere Mengen kaufen: «Und wenn ich kein Geld habe, dann konsumiere ich halt nicht.» Reue empfindet er nicht. Im Gegenteil. Auch Schafe, Schweine, Kühe und Pferde wohnen im Saxerriet Roberto Kasper arbeitet wie der Grossteil der Insassen auf dem Landwirtschaftsbetrieb. Wenn’s geht, arbeite er gerne sechs bis sieben Tage pro Woche. Dabei hat sich Kasper eigentlich frühpensionieren lassen. Viel Geld erhält er nicht. Er brauche wenig zum Leben. Zusammen mit seiner Freundin hat er eine Sozialwohnung am Rande der Stadt Zürich. Dass sie oder sonst jemand ihn besuchen kommt, will er nicht. Sie telefonieren einmal pro Woche. Sie habe im Gegensatz zu ihm ein Problem mit Drogen. «Deswegen haben wir immer wieder Puff miteinander. Aber ich mache mir halt Sorgen», sagt Kasper. Viele seiner Freunde von früher seien an den Drogen gestorben.  Auf dem Landwirtschaftsbetrieb kümmert sich der ehemalige Schafhirt auch um die Schafe. Früher war er 15 Jahre lang mit Wanderherden unterwegs. Sobald er entlassen ist, will er wieder auf die Alp. «Das hier ist für mich wie eine längere Alpzeit. Auf der Alp kann ich ja auch nicht weg.»Für Damian B. ist es abends am schwierigstenAnders Damian B.: Er braucht den Kontakt zu anderen. Wenn er mit der Arbeit fertig ist und nicht lernen muss, verbringt er Zeit mit anderen Insassen im Gruppenraum. Fast jeden Tag telefoniert er mit Freunden oder der Familie. Sie bedeuten ihm alles. Er sagt: «Meine Familie und meine Freunde wissen, wie ich eigentlich bin.» Am Telefon schmiedet er Pläne für seinen nächsten Hafturlaub. Neben seinen Eltern und dem jüngeren Bruder verabredet er sich mit Freunden zum Essen, Shoppen oder er geht zum Coiffeur und zum Tätowierer. «Am Anfang war es schwierig für mich, hier zu sein», sagt Damian B. Inzwischen habe er seine Situation akzeptiert. Dadurch fühle er sich besser. Ausserdem vergehe die Zeit sehr schnell hier drin, vor allem an einem Arbeitstag. Am Abend ist es für ihn am schwierigsten. Statt wie früher mit Kollegen ein Feierabendbier zu trinken, wird die Türe zu seinem Zimmer von aussen verschlossen. Dann fühle er sich schon manchmal einsam und denke oft an das Opfer, dem er Schaden zugefügt habe. Er bereut, was er getan hat. Wenn er seine Strafe abgesessen habe, wolle er den Kontakt zum Opfer suchen und sich nochmals entschuldigen. Die Wand über seinem Bett füllen Fotos von Freunden und der Familie aus. Darunter ein Bild des Familienhunds: «Ich hoffe, dass Moira noch lebt, wenn ich rauskomme», sagt er. Den Feierabend nutzt Roberto Kasper, um Schächtelchen aus Zündhölzern zu basteln. «Eine schöne, beruhigende Tätigkeit», sagt er mit verschmitztem Blick. Wenn um 21 Uhr die Türe zu geht, ist Roberto Kasper schon lange in seinem Zimmer. «Ich sage den BSD-Mitarbeitern meist schon früher, dass sie abschliessen können», sagt er. Eingesperrt zu sein, das störe ihn überhaupt nicht.

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