08.01.2020

Das krasse Missverhältnis

Politische Parteien können einen wirklich ärgern. Im letzten Jahr etwa die FDP, die das CO2-Gesetz verwässerte, bevor Präsidentin Petra Gössi die berechnend wirkende Kehrtwende in der Klimapolitik verkündete. Oder der spektakuläre Meinungswechsel der SVP, die sich plötzlich doch noch gegen eine höhere Krankenkassen-Franchise aussprach.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Der Glaubwürdigkeit dienen Hauruck-Übungen dieser Art genauso wenig wie die Verteidigung individueller Entgleisungen eines Parteiexponenten durch die Partei.Parteien haben ohnehin nicht unbedingt den besten Ruf. Sie bergen die Gefahr von Klüngelei, tun sich mitunter mit innerhalb der Partei abweichenden Meinungen schwer und sind auch vor Intrigen nicht gefeit.Schlimmstenfalls wird ein Abweichler als Abtrünniger ausgeschlossen. Die SP hat in der ersten Hälfte des letzten Jahres Austritte hinnehmen müssen, weil eigene Exponenten wegen angeblicher ideologischer Scheuklappen innerhalb der Partei unzufrieden waren.So schlecht das alles einerseits zwar ist – ist es auch aussergewöhnlich? Kommen nicht anderswo – in Unternehmen, Regierungen, Verbänden, Institutionen – die gleichen Unerfreu-lichkeiten vor? Die Bedeutung der politischen Parteien steht in krassem Missverhältnis zu ihrem angeschlagenen Ruf. Obschon Parteilosigkeit gerade bei Wahlen an Durchschlagskraft deutlich gewonnen hat, sind die Parteien im Wettstreit der Ideen und bei der Besetzung politischer Ämter die nach wie vor treibende Kraft.Podien und viele Infos dank der OrtsparteienWer, wenn nicht die drei Ortsparteien, hätte in Au-Heerbrugg im Hinblick auf die Schulpräsidentschaftswahl eine Findungskommission gebildet und den beiden – notabene parteilosen – Kandidaten ein Podium für eine öffentliche Diskussion bereitet?Wer, wenn nicht eine politische Anti-CVP-Koalition hätte in Widnau einem Parteilosen ermöglicht, sich im Kampf ums Schulpräsidium mit dem CVP- Kandidaten zu messen? Auch die Durchführung interessanter Veranstaltungen zu wichtigen und bewegenden Themen gäbe es kaum noch, wären die Schweizer ein Volk von Parteilosen.In Balgach hat die FDP-Ortspartei im Frühjahr einen hochinteressanten Anlass über Verkehrsprojekte durchgeführt, und generell sind Ortsparteien vorbildlich im Organisieren öffentlicher Veranstaltungen zu bewegenden, oft lokalen, manchmal regionalen Themen.Der parteilose Altstätter Stadtpräsident Ruedi Mattle (der aktuell für den Kantonsrat kandidiert) teilt die Auffassung, für die Wahrung unseres Milizsystems seien die politischen Parteien unentbehrlich. Vor seiner Wahl an die Spitze der Stadt gehörte Mattle deshalb in Zürich-Oerlikon einer Partei an – der CVP. Allerdings erwies sich sein Bezug zum Ort als so gering, dass Mattle wieder austrat. Einer Kandidatur fürs Stadtpräsidium stand eine Parteilosigkeit nicht im Weg. Im kommunalen Umfeld geht es nach Mattles Auffassung kaum um Parteipolitik, sondern vorrangig um eine Führungsaufgabe und den gemeinsamen Willen des Stadtrats, die Stadt zu entwickeln.Beni Heeb, der frühere (parteilose) Oberrieter Gemeinderat, sagte bei seinem Rücktritt mit 59: Wäre er nochmals zwanzig, würde er Parteimitglied. Der damals noch bestehende Landesring der Unabhängigen war seine bevorzugte Partei, auch die SP wäre in Frage gekommen. Nirgendwo dabei zu sein, bedeute, dass man sich sein Netzwerk mühsam aufzubauen habe.Aus der Sicht eines Wählers sagt etwa der St.Margrether FDP- Präsident Ralph Brühwiler, mit Ausnahme des amtierenden St. Margrether Gemeindepräsidenten Reto Friedauer habe er noch nie einen Parteilosen gewählt. Jemand Parteilosem ziehe er zum Beispiel einen CVP-ler vor, wenn nicht sogar eine Persönlichkeit aus der SP, weil ihm eine klare Gegenmeinung lieber sei als jede tatsächliche oder potenzielle «Wetterfahne».2500 Rheintaler sind in einer ParteiAngesichts der unbestritten hohen gesellschaftlichen Bedeutung, die den politischen Parteien zukommt, kann man sich fragen, ob ihr Einsatz auch durch Mitgliedschaft in einem adäquaten Mass belohnt wird. Im Wahlkreis Rheintal, also von Rheineck bis Rüthi und somit einer Region mit 75000 Menschen, nennen die Parteien auf Anfrage folgende (gerundete) Mitgliederzahlen:CVP: 900FDP: 800SVP: 500SP: 260Grüne: 60GLP: 20Rund 2500 Rheintalerinnen und Rheintaler gehören somit einer politischen Partei an. Gründe für eine Mitgliedschaft gibt es viele. Wer zudem aktiv mitwirkt, kann mit Gleichgesinnten zusammen sein, trägt zu einem Wir-Gefühl bei, findet Identität, bestimmt politisch mit, leistet Orientierungshilfe und hat sogar die Chance, sich als Meinungsmacher hervorzutun. Und nicht zuletzt: In einer Partei mitzuwirken, erfordert die Bereitschaft, sich festzulegen. Sie zeugt von Interesse und vom Mut, für etwas einzustehen.Dass sich auch innerhalb einer Partei etwas erreichen lässt, zeigte sich vor der Volksabstimmung über Sozialdetektive. Nachdem die SP-Spitze mit ihrer Haltung Unverständnis an der Basis hervorgerufen hatte, beschlossen einige Kantonalparteien auf eigene Faust, das Referendum gegen Sozialdetektive zu unterstützen.Politik geht auch die Jungen anEine demokratische Gesellschaft brauche den Wettbewerb der Ideen darüber, wie wir sie gestalten wollen, sagte der frühere Bundesrat Moritz Leuenberger 2007 in einem Referat über die Notwendigkeit politischer Parteien. Und in der Tat ist es zermürbend, sogar ätzend, zum Beispiel an Stammtischen Unzufriedene über diese oder jene Partei wettern zu hören, zum Beispiel «die Linken». Nicht, weil es nötig wäre, sich ihnen zugehörig zu fühlen, sondern weil die Errungenschaften unseres Landes eben nicht einer bestimmten Partei, sondern permanentem Aufeinandertreffen sich widersprechender Ansichten zu verdanken sind. Wobei die in ihrer Bedeutung konstant gebliebene Kompromissbereitschaft letztlich nicht so stark gelitten hat, wie gern behauptet wird.Ein grosses Problem seien «nicht unbedingt die Parteilosen», meint die Diepoldsauer FDP-Präsidentin Myriam Geisser. Schwerer wiege, dass die Jungen sich kaum mehr zu aktiver Mitwirkung entschlössen. Karin Hasler, die in Balgach lebende Präsidentin der SP Rheintal, äussert sich insofern zuversichtlicher, als die Mitgliederzahl tendenziell steige und das sehr erfreulich sei, zumal man angewiesen sei auf einen Generationenwechsel.Aufsehen erregte im letzten Jahr landesweit die Junge GLP mit ihrem Vorstoss für ein höheres Rentenalter. Von dem Vorschlag mag man halten, was man will, doch wegweisende Initiativen sind begrüssenswert. Endlich einmal eine einfache Formel, kurz und bündig, ohne Vermischung verschiedener Themen – und das Volk kann sagen, was es davon hält.Verbunden sinddie Schwachen mächtigDer Hauptgrund fürs Mitmachen in einer Partei ist denn auch idealerweise der Wunsch, im Kreise Gleichgesinnter etwas zu bewegen und dazu beizutragen, dass unser Land weiterkommt. Dies zu tun sei die «Kernkompetenz der CVP», wurde Bundesrätin Viola Amherd in der Sonntagszeitung vom 30. Juni zitiert. Gesprochen hatte die Bundesrätin laut Sonntagszeitung «für jene Partei, deren Kernkompetenz eher darin besteht, sich selbst zu dezimieren und so verzichtbar zu machen», doch diese hämische Einschätzung erwies sich als falsch; die CVP ging aus den Parlamentswahlen gestärkt hervor.Fragte man Werner Stauffacher, (der Sage nach) den Mitbegründer der Eidgenossenschaft, was er von einem Parteibeitritt halte, sind die Worte naheliegend, die ihm Friedrich Schiller in den Mund gelegt hat: «Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.»Ein Problem ist heutzutage das verzerrte, übertrieben negative Weltbild, das die Medien begünstigen, indem sie teilweise auf Nachrichten setzen, die grösstmögliche Aufmerksamkeit bringen. In Maren Urners neuem Buch «Schluss mit dem täglichen Weltuntergang» («Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren») ist zu lesen: «Fast jeder zweite Befragte, der aktiv versucht, Nachrichten nicht zu konsumieren, begründet seine Entscheidung damit, dass sich die Nachrichten negativ auf die eigene Stimmung auswirkten.» Häufig werde zudem angeführt: «Ich habe nicht das Gefühl, dass ich irgendetwas tun kann».Die Parteien bieten hier eine gerade von jungen Menschen vermutlich stark unterschätzte Alternative, indem sie nach Lösungen für Probleme suchen. Wahrscheinlich der schönste Lohn, wenn die Suche erfolgreich verläuft, ist ein überaus gutes Gefühl.

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