15.02.2021

Das ist der höchste Mann in Heerbrugg

Höhenangst kennt Sevdi Kica nur vom Hörensagen, denn seit bald 35 Jahren führt er Kräne auf Rheintaler Baustellen.

Von Seraina Hess
aktualisiert am 03.11.2022
Die Maske trägt Sevdi Kica in diesen Tagen auch, wenn er sich allein auf den Weg in die Führerkabine begibt. Die Temperaturen liegen weit unter Null und der Wind bläst gefühlt schon in gut zehn Metern Höhe viel stärker als am Boden. Auf den Tritt genau 145 Stufen sind es, die Kica nur mit einem Bauhelm geschützt erklimmen muss, bis er seine Kabine erreichen wird. Die Leitern steigt der Widnauer mit einer Leichtigkeit empor, die an einen Bergsteiger erinnert. «Privat fahre ich aber nur Velo», sagt Kica und schmunzelt. Das Lachen vergeht ihm auch nicht, als der Kran in gut 20 Metern Höhe beginnt, sanft, aber dennoch spürbar zu schwanken. «Das ist völlig unbedenklich», sagt Kica, «erst ab Böen von 45 bis 50 Kilometern pro Stunde können wir nicht mehr arbeiten». Den meisten Menschen werde es aber aufgrund der Zwischenböden aus Gitter bereits in der Hälfte des Aufstiegs zu viel. Kicas Tipp gegen schlotternde Knie: Nicht runter auf die immer kleiner werdende Baustelle blicken, sondern stets den Horizont mit dem prächtigen Bergpanorama vor Augen halten. Rund zehn Minuten dauert es, bis der Kranführer die geheizte Kabine erreicht, die er seit rund 34 Jahren seinen Arbeitsplatz nennt.Zweimal am Tag erklimmt Sevdi Kica die Leitern, zweimal steigt er hinab. In zwei Wochen zum KranführerZu seinem Beruf gefunden hat der 57-Jährige, als er 1987 aus dem heutigen Nordmazedonien in die Schweiz gezogen ist. An seine erste Baustelle, damals noch Hilfsarbeiter, kann er sich nicht nur erinnern – er sieht den Standort sogar heute durch die Fensterscheibe seiner rund drei Quadratmeter grossen Kabine. Beim Schulhaus Blattacker hat er zum ersten Mal einen Kran erklommen. «Dieser war natürlich viel kleiner. Innerhalb von zwei Wochen habe ich gelernt, ihn zu bedienen – und seither habe ich nichts anderes mehr gemacht», sagt Kica. Die Ausbildung zum Kranführer absolvierte er erst fünf Jahre später. Diese befähigte ihn, auch grosse Maschinen wie den jetzigen Kran zu führen, der rund 42,5 Meter in den Himmel ragt.Auch nach 35 Jahren geniesst Kranführer Sevdi Kica die Aussicht von seinem Arbeitsplatz aus. Das Rheintal um Sevdi Kica herum ist ein anderes geworden als damals, als er seine erste Stelle bei der Firma Carnier antrat. Heerbrugg zeigt das besonders eindrücklich: «Gerade das Gebiet um den Bahnhof herum hat sich extrem entwickelt. Und ich war fast überall dabei», erinnert sich Kica, heute bei der St. Margrether Gautschi AG angestellt. Egal ob die Überbauung Zentrumspark hinter dem Bahnhof, die neue Coop-Filiale, «Am Markt» oder die Ellipse, Kica war stets in seiner Kabine über den Dächern und transportierte allerhand Baumaterial bis hin zu sechs Tonnen Traglast. Auch jetzt arbeitet er auf einer Baustelle, die Heerbrugg prägen wird. Auf dem Gelände seines einstigen Arbeitgebers, auf dem Carnier-Areal neben dem Bahnhof, entsteht die Überbauung Erlen: Sechs Gebäude mit insgesamt 53 Mietwohnungen, Büroräumen und einem öffentlichen Parkhaus. Den besten Ausblick gab’s bei Just in WalzenhausenNeben Kica arbeiten derzeit 14 Arbeiter auf der Baustelle, schon bald sind es doppelt so viele. Die Wohnungen dürften im Herbst 2022 bezugsbereit sein. Im Moment werden Gräben für die Trafostation und für die Lüftungen ausgehoben. Insgesamt stehen drei Kräne auf dem Areal; zwei sind damit beschäftigt, Geröll zu transportieren. Der sandige Boden, vor allem aber das Grundwasser machen den Arbeitern zu schaffen, weil ausgehobene Gräben immer wieder zusammenfallen und Wasser abgepumpt werden muss. Demnächst soll aber die Kanalisation gelegt und eine Erdsonde eingebaut werden, welche die Überbauung mit Erdwärme versorgen wird.  Der Platz ist knapp bemessen: Sevdi Kica in seiner Kabine. Der Ausblick aus der Kranführerkabine reicht bis nach Altstätten, bis nach Vorarlberg und bis ins Appenzeller Vorderland. Sevdi Kica geniesst sie auch noch nach über drei Jahrzehnten, wie er sagt: «Am eindrücklichsten war die Baustelle bei Just in Walzenhausen. An jenem Hang hatte ich in meiner Kabine das Gefühl, nur der Bodensee befinde sich unter mir.» Das lässt ihn auch darüber hinweg sehen, dass er mit Ausnahme von der Mittagspause den ganzen Arbeitstag allein in der Kabine verbringt und nur über Funk mit seinen Kollegen verbunden ist. «Für den Znüni lohnt es sich nicht, den Weg hinunter auf mich zu nehmen», sagt Kica . Festen Boden hat er erst um 12 Uhr wieder unter den Füssen; den Weg bringt er dann allerdings etwas schneller hinter sich als früh morgens. Knapp sechs Minuten vergehen, bis der Kranführer die 145 Stufen hinuntergeklettert ist. Auf dem ehemaligen Carnier-Areal in Heerbrugg stehen zwei weitere Kräne.

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