Monika von der LindenErnst Nüesch führt in den Keller des Kirchgemeindehauses Breite. Hinter etlichen Ecken liegt am Ende des Ganges ein kleiner und unscheinbarer Raum. Hier ist das Archiv der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Balgach untergebracht. In Schachteln und Kästen lagern historische und bedeutsame Dokumente, Fotos sowie Sachgüter. Ernst Nüesch hat dem Kirchenarchiv eine professionelle Ordnung gegeben. Er braucht nur einen Griff zu tätigen, und schon hat er ein Beispiel zu jeder ihm gestellten Frage zur Hand. Behutsam holt der Archivar ein mit Feder geschriebenes Dokument hervor. Es trägt ein Siegel aus dem Jahr 1578 und beurkundet die Gründung des Pfarrhauses. Als sich die Reformierten von den Katholiken lösten, wurden alle Güter aufgeteilt. «Ein eigenes Pfarrhaus musste her. Es kam in der Nähe des alten Rathauses zu stehen», sagt Ernst Nüesch. Dann öffnet der Archivar eine schwere Holzkiste. In ihr aufgehoben ist ein Modell aus dem Jahr 1936. Jakob Schmidheiny liess es anfertigen. Es zeigt, wie die Kirche nach der seinerzeit geplanten und später umgesetzten Erweiterung aussehen sollte.«Für mich war es ein Ereignis, als das zinnene Taufgeschirr wieder hervorkam», sagt Ernst Nüesch. Lange glaubte er, es sei verschwunden. Kanne und Teller waren zwar im Verzeichnis notiert, es wusste aber niemand, was aus ihnen geworden war. «Werner Elbling war in den 1960er-Jahren Pfarrer in Balgach. Zu seiner Einsetzung hatte man es ihm geschenkt», sagt Ernst Nüesch. Als der heute in Baden lebende Theologe in Ruhestand trat, hatte er keinen Platz mehr für das liturgische Geschirr und gab es der Kirchgemeinde zurück.In fünf Jahren von Grund auf erarbeitet«Bis ins Jahr 2000 gab man sich mit dem Archiv nicht besonders viel Mühe», sagt Ernst Nüesch. «Dann besann man sich mehr auf die eigenen Wurzeln.» In den folgenden fünf Jahren nahm er sich im Auftrag der Kirchgemeinde des in Bananenschachteln aufbewahrten Guts an, absolvierte ein Selbststudium und besuchte einen Kurs der Kantonalkirche. Nachdem ein in puncto Feuchtigkeit und Wassersicherheit geeigneter Kellerraum eingerichtet war, sichtete und bewertete Ernst Nüesch jedes einzelne Dokument und ordnete es Gruppen zu. Er erstellte einen Registraturplan, schrieb alphabetische Listen, nummerierte und beschriftete jedes einzelne Teil. «Ich habe das ganze Inventar im Kopf», sagt er. Schon manches Mal hat er sich als Gedächtnis der Kirchgemeinde bewiesen, eine gesuchte Information und das dazugehörige Dokument herausgesucht. «Jeder Kirchenvorsteher soll in seinem Ressort Unterlagen finden und zur Entscheidungsfindung heranziehen können.»Als der 72-Jährige vor zehn Jahren in Pension ging, stand eine erste Überarbeitung an. Die Papiere, die er im Zwischenarchiv deponiert hatte, bewertete er neu. Manche vernichtete er, andere lagerte er endgültig ein und inventarisierte sie.Vor einigen Wochen gab Ernst Nüesch die Verantwortung für das Archiv an die Kirchgemeinde zurück. Nochmals hatte er 80 Stunden in die alle zehn Jahre nötige Aktualisierung investiert. «Ich habe versucht, dem Wissen auf Papier einen möglichst hohen Standard zu geben», sagt er. Die Digitalisierung ist nicht vorgesehenKünftig wird die Kirchgemeinde das Zwischenarchiv führen und die regelmässige Überarbeitung fremdvergeben. «Sie sollte sich Gedanken machen, wie sie künftig Dokumente sammeln will.» Protokolle und Schriftverkehr werden meist digital verfasst. Das Kirchenarchiv zu digitalisieren, erachtet der scheidende Archivar als nicht nötig. Die Öffentlichkeit müsse nicht online auf Dokumente zugreifen können. «Wer etwas ansehen möchte, kann ins Kirchgemeindehaus kommen.»Ernst Nüesch hat in den 20 Jahren seine ortsgeschichtlichen Kenntnisse erweitert. «Ich habe gelernt, kritisch zu lesen und mich eher auf die Originalquelle zu beziehen als auf einen Artikel, der geschichtliche Ereignisse beschreibt.» Die Früchte seines Wirkens wird Ernst Nüesch weiter als Spurensucher präsentieren und gern als Geschichtskenner Auskunft erteilen. «Ich gebe die Aufgabe mit gutem Gefühl ab», sagt er. «Ich habe viele geschichtliche Zusammenhänge entdeckt und verstanden, wie vergänglich das Leben ist.» Ein Archivar müsse ein besonderer Typ Mensch sein: wissbegierig, ausdauernd und von der Materie angefressen.