Jedes Jahr sterben in der Schweiz rund 70 Menschen, die auf der Warteliste für eine Organspende stehen, weil nicht rechtzeitig das passende Organ für sie zur Verfügung steht. Derzeit warten schweizweit etwa 1400 Menschen auf ein Spenderorgan. Die meisten von ihnen – über 1100 Patienten und Patientinnen – benötigen eine neue Niere. Die durchschnittliche Wartezeit für eine Niere liegt bei rund 1000 Tagen. Ramon Segmüller aus Eichberg wartete 284 Tage – dank seiner Mutter.Von Tablettencocktails und zittrigen HändenSeine Hände zittern, als er über den Bildschirm seines Smartphones scrollt, auf dem Bilder aus seiner Zeit im Krankenhaus zu sehen sind: Das Essen, die L-förmige Narbe, die sich über seinen Bauch zieht, das erste Mal, als er seine Mutter nach der Transplantation traf. Er schaut auf seine Hände: «Das sind die Nebenwirkungen des Tablettencocktails», sagt er. Es ist sechs Monate her, seit er am 11. November 2021 die Niere seiner Mutter transplantiert bekam. Täglich muss Ramon Segmüller seitdem 38 Tabletten einnehmen.Denn nach einer erfolgreichen Transplantation müssen die Patienten für den Rest ihres Lebens sogenannte Immunsuppressiva einnehmen. Das sind Medikamente, welche die Funktionen des Immunsystems schwächen und so verhindern, dass das transplantierte Organ vom Körper abgestossen wird. Die Nebenwirkung: zittrige Hände. «Ansonsten geht es mir bestens», sagt Ramon Segmüller, während er sich ein Glas Wasser einschenkt und sich an den Küchentisch seines Hauses in Eichberg setzt. Aber das war nicht immer so.Diagnose: «Absolute Scheisse»Es war der 10. Januar 2021, und Segmüller erinnert sich noch sehr genau an diesen Tag. Wie er mit Freunden auf den Fänerenspitz laufen wollte und unterwegs ein Stechen in der Brust bemerkte. «Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht und das letzte Stück zum Gipfel ausgesessen», sagt er. Doch das Stechen und die Kurzatmigkeit verschwanden in den nächsten Tagen nicht. Hinzu kamen Übelkeit und eine Einschränkung der Sehkraft.Er ging zum Arzt, der ihm blutdrucksenkende Mittel verschrieb. Nachdem zwei Wochen lang keine Besserung eingetreten war, begab er sich zur Kontrolle ins Krankenhaus. «Sie riefen mich noch am selben Tag an und sagten mir, ich solle eine Tasche mit Kleidern packen und ins Kantonsspital fahren», erinnert er sich. Nach weiteren Bluttests und Untersuchungen bat man ihn, seine Familie und seine Freundin anzurufen; die Ärzte müssten mit ihm sprechen. Die Diagnose: komplettes Nierenversagen. Seine Nieren hatten nur noch sechs Prozent Leistungskapazität. «Was Sie haben, ist absolute Scheisse», sagte ihm sein Arzt damals. «Die Diagnose war für meine Eltern schlimmer als für mich», sagt er. Segmüller ist ein lebendiger Mensch, eine Frohnatur. Nichts wirft ihn aus der Bahn.Der 29-Jährige ist mit seinen beiden Schwestern und seinen Eltern in Eichberg aufgewachsen und lebt auch heute noch dort. Mit seiner Freundin wohnt er im Haus seines Grossvaters. Er arbeitet bei Waffen Büchel in Altstätten, engagiert sich in der Guggenmusik Bazzaschüttler und ist oft mit seinen Freunden unterwegs. Gerade dieses Umfeld hat ihm immer wieder Hoffnung gegeben. «Ich hatte nie Angst», sagt er. Weder als die Bauchfell-Dialyse begann und sich sein Keller in ein medizinisches Labor mit Paletten voller Dialysegut verwandelte und als er jede Woche zum Arzt musste, noch als die Transplantationsabklärungen begannen, sein Name auf die Liste gesetzt wurde und das Warten begann.Warten auf eine Niere, warten auf den OP-Saal«Die Unterstützung von allen um mich herum war gigantisch.» So auch von seiner Mutter, die sofort zustimmte, sich für eine mögliche Spende testen zu lassen. Dann kam die Erlösung: Eine bessere Übereinstimmung mit der Niere seiner Mutter konnte es nicht geben. Wieder einmal hiess es warten, bis ein Operationssaal frei wurde.«Ich musste lernen, das Geschenk anzunehmen», sagt Ramon Segmüller. Anfang Oktober letzten Jahres erhielt er einen Anruf aus dem Kantonsspital: «Herr Segmüller, was haben Sie am 11. November vor?» – «Ich nehme an, eine Transplantation, wenn Sie so fragen», sagte er damals und wusste nicht, ob er schreien, weinen oder vor Glück lachen sollte. Die Operation verlief gut , für ihn und auch für seine Mutter. «Es war mir immer wichtig, dass es ihr gut geht. Es ist ein grosses Privileg und Geschenk, das ich von ihr erhalten habe.Wäre er auf der «normalen» Transplantationswarteliste gestanden, hätte er auch wegen seiner speziellen Blutgruppe B+ wohl vier bis fünf Jahre auf ein Spenderorgan warten müssen. Deshalb ist die Abstimmung am 15. Mai für ihn ein besonderes Anliegen. Nicht nur für ihn, sondern auch für alle anderen Betroffenen, wie er betont. Segmüller weiss, dass er irgendwann noch einmal eine neue Niere brauchen wird. «Vielleicht in einem Jahr, vielleicht in 20 Jahren. Dann wäre es gut, wenn genug vorhanden sind», sagt er und lacht. Der ganze Prozess ginge dann von vorne los. Es beginnt mit einer Blutuntersuchung und endet hoffentlich mit einer neuen Niere.Darum geht es beim TransplantationsgesetzAm kommenden Sonntag stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über das Transplantationsgesetz ab. Doch was bedeutet das eigentlich?
Für die Organspende gilt in der Schweiz derzeit das Prinzip der Zustimmungslösung. Wenn eine Person zu Lebzeiten in die Organspende einwilligt, können die Organe nach dem Tod gespendet werden. Ist jedoch der Wille der verstorbenen Person nicht bekannt, müssen die Angehörigen über die Organspende entscheiden. Sagt das Schweizer Stimmvolk am 15. Mai Ja zum indirekten Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament, gilt künftig die Widerspruchslösung. Will jemand seine Organe nicht spenden, muss die Person dies zu Lebzeiten in einem Register eintragen lassen. Angehörige können die Organspende aber weiterhin ablehnen, wenn sie vermuten oder wissen, dass die Person ihre Organe nicht spenden wollte.