Die «Lichtbühne», die später «Orient» und «Odeon» hiess, zog vor 100 Jahren mit der Aufführung von Stummfilmen ein grosses Publikum an.
Meist sind es Veränderungen, die uns daran erinnern, dass Häuser viel zu erzählen hätten: von Menschen, die ein- und ausgegangen sind, von Schicksalen oder von Nutzungen, die heute kaum noch ersichtlich sind. So ist es beim ehemaligen Schuhhaus an der Marktgasse, in dem Mirjam Seitz ihren Laden für Innenarchitektur, Wohnen und Mode (Flair) eingerichtet hat. Nur wenigen dürfte bewusst sein, dass sich in diesem Gebäude das erste Kino des Rheintals befand. Der einstige Kinosaal ist der Grund für das überaus hohe Erdgeschoss.Im «Sonnen»-Saal die ersten Filme gezeigt1919 – der Krieg war vorbei, die Grippewelle überstanden. Die dominierende Stickereiindustrie lag am Boden. Dem Wunsch nach moderner Unterhaltung tat dies keinen Abbruch. Ein Kinobesuch konnte schnell zum Höhepunkt der Woche werden. In Altstätten hatte das neue Medium Film bereits 1911 Einzug gehalten. Regelmässig wurden im «Sonnen»-Saal Filme gezeigt. Die Vorführungen stiessen auf grosse Resonanz.
Das Interesse war trotz der Einschränkungen während der Kriegsjahre und trotz des eher beschränkten Angebots an Filmen so gross, dass sich die Gebrüder Zellweger entschieden, mitten in der Stadt ein Kino zu bauen. Anstelle der früheren Remise des Hauses zum Schwert wurde an der Verzweigung Marktgasse/Engelgasse ein Neubau mit einem grossen Kinosaal im Erdgeschoss erstellt.
«Auf der Alp, da gibt’s ka Sünd»
Im Dezember 1919 wurde zur ersten Vorstellung eingeladen. Mit einem Einritt konnte man sich gleich drei Filme ansehen. «Im sonnigen Orient» bildete den Auftakt. Es folgte «Die verschleierte Medusa», ein «Abenteuer und Gesellschaftsdrama mit schönen Naturbildern aus Sizilien», ehe der 55-minütige Streifen «Auf der Alp, da gibt’s ka Sünd» mit dem damaligen Star des deutschen Stummfilms, Henny Porten, den Abschluss bildete. In einer zeitgenössischen Filmbesprechung hiess es über die Hauptdarstellerin: «Henny Porten ist wieder von entzückendem Charme und ergötzt durch ihren so schlichten und urwüchsigen Humor.»
«Alles Unsaubere peinlich ausgeschaltet»
An mindestens drei Tagen pro Woche wurden die Filme gezeigt. Es handelte sich ausschliesslich um Stummfilme. Es ist denkbar, dass die Vorstellungen von einem Klavier begleitet wurden. Wöchentlich wechselte das Programm. Alles deutet darauf hin, dass die Vorstellungen gut besucht waren. Das galt auch für die Vorstellungen im «Sonnen»-Saal, über die es in der «Rheintalischen Volkszeitung» hiess: «Das Lichtbildtheater erfreut sich eines regen Besuches.» Die Bilder seien sehr gelungen. «Alle Tendenzmache und alles Unsaubere» sei peinlich ausgeschaltet.
Das war sehr wichtig, denn Kirche, Schule und die politischen Behörden achteten mit Argus-Augen darauf, dass nur anständige Filme gezeigt wurden. Dies umso mehr, da ja die gleichen Filme auch in eige-nen Kindervorstellungen gezeigt wurden.
Die Gebrüder Zellweger zeigten nicht nur Filme, sondern machten auch selbst Filme, beispielsweise über die Fasnacht der Röllelibutzen. Ihr Kino war beliebt. 1931 machten die Betreiber einen grossen technischen Schritt. Von nun an konnten auch sogenannte Tonfilme abgespielt werden. Die «Volkszeitung» erwähnte lobend, mit grossem Aufwand sei eine «Tonfilm-Apparatur» eingebaut worden. Man nannte sich nun «Tonfilm-Theater».
Mit dem Extra-Tram nach Heerbrugg
Wenn schon Ton, dann gleich ein Musikfilm zur Eröffnung. Gezeigt wurde der Operettenfilm «Das Lied ist aus». Die Musik stammte vom damals sehr berühmten Robert Stolz. Die Leute kamen so zahlreich, dass nach den Vorstellungen eine «Extra-Tramverbindung bis Heerbrugg» angeboten wurde. Noch gab es nur sehr wenige Private, die ein Auto besassen. Der Erfolg hielt an, und 1932 wurde das Kino mit einer Bühne ergänzt. Wenn kein Film gezeigt wurde, traten Künstler oder Hellseher und Hypnotiseure auf. Der Film blieb aber im Mittelpunkt. Egal, ob Abenteuer oder Drama, Religiöses oder Urschweizerisches gezeigt wurde, die Krise der Dreissigerjahre tat der Beliebtheit des Kinos keinen Abbruch. Die Wochenschau – die jeweils im Vorprogramm lief – war die einzige Möglichkeit, Filme über aktuelle Anlässe in ganz Europa zu sehen.
Mit einem Klassiker am neuen Ort gestartet
Alois Tanner, der das «Odeon» ab Mitte der Dreissigerjahre betrieb, war von der Zukunft des Films derart überzeugt, dass er an der Rorschacherstrasse einen Neubau erstellen liess. Im September 1941 wurde der erste Film gezeigt: «Das Menschlein Matthias», ein Film über einen «Verdingbuben», der zu einem Schweizer Klassiker wurde.
Die Erfolgsgeschichte ging vorläufig weiter. Nach dem Krieg wurden vermehrt amerikanische Filme gezeigt. Das Fernsehen, das in den Sechzigerjahren in immer mehr Stuben Einzug hielt, wurde zu einer Konkurrenz. Die Besucherzahlen nahmen ab und die Kinos, ganz besonders auf dem Land, kamen zusehends unter Druck. 1991 wurde der Vorhang definitiv gezogen und Susanne Oehy-Müller schloss das Kino. Seither werden im ehemaligen Kinosaal Motorräder repariert und verkauft. Beiden Gebäuden – jenem an der Marktgasse und jenem an der Rorschachstrasse – ist noch anzusehen, dass sie einst für eine ganz besondere Nutzung erbaut worden sind.