Es wird eine so hohe Zuschauerzahl vor Ort sein, wie sie seit der Entdeckung des Fussballs im St. Galler Rheintal wohl noch nie registriert werden konnte. Erwartet werden 6000 Fans. Die Vorfreude auf das Spiel ist so gross, dass sie sich bis in «höhere Gefilde» herumgesprochen hat: Für den Sonntag werden strahlender Sonnenschein und Temperaturen um die 33 Grad vorausgesagt. Es wird ein grandioser Rahmen für ein spezielles Fussballspiel.
1904 die Münchner Bayern mit 10:0 weggeputzt
Der FC St. Gallen 1879 ist der mit Abstand bekannteste und beliebteste Club der Region östlich von Winterthur. Der mittlerweile 144 Jahre alte Verein besitzt im Rheintal eine riesige Fanbasis. Ehemalige Schüler des Instituts Schönberg lernten den Sport durch englische Mitschüler kennen und beschlossen, einen Club zu gründen. Am 19. April 1879 wurde dem FC St. Gallen das Leben eingehaucht. Ein Mythos war geboren: der älteste Fussballclub auf dem gesamten europäischen Festland.
Interessant sind einige Fakten aus den Kinderzeiten des Clubs: Vom ersten dokumentierten Spiel, im 1892, weiss man noch, dass der FCSG gegen die Grasshoppers 0:1 verlor und die Zürcher wegen viel zu kleiner Tore reklamierten. In den 1890er-Jahren geschah etwas, was heute undenkbar ist: Die Clubfarben wurden für kurze Zeit in Schwarz-Gelb gewechselt. 1902 gewann St. Gallen sein erstes internationales Spiel gegen Alemannia Karlsruhe. Das Resultat lautete «25:0 oder 26:0 für den Vereinigten FC St. Gallen», wie aus damaligen Aufzeichnungen zu entnehmen ist. Weil sich Viktoria St. Gallen und Phönix St. Gallen dem FCSG angeschlossen hatten, lief dieser damals als «Vereinigter FC St. Gallen» auf. 1904 gewannen die Grün-Weissen ein Freundschaftsspiel gegen Bayern München 10:0, ein Resultat, das heute weltweit Schlagzeilen machen würde. Im gleichen Jahr wurde der Club erstmals Schweizer Meister. 1910 folgte der Umzug von der Kreuzbleiche auf das Espenmoos, wo er fast 100 Jahre blieb, bevor er das neue Stadion im Westen der Stadt bezog.
St. Gallen und der Schweizer Cup ist indes nicht unbedingt eine Erfolgsgeschichte. Seit 1925 wird der Wettbewerb ausgetragen. In schmerzlicher Erinnerung sind sicher die beiden Finalteilnahmen 2021 und 2022, in denen der FCSG in Bern gegen Luzern (1:3) und Lugano (1:4) den Kürzeren zog. Einmal haben es die St. Galler geschafft, den Kübel mit in die Ostschweiz zu nehmen. Das war am 26. Mai 1969, als die AC Bellinzona im Wankdorfstadion vor 24000 Zuschauenden 2:0 bezwungen wurde. An den Doppeltorschützen Nafziger und Trainer Sing dürften sich die etwas älteren Semester noch gut erinnern.
Seither ist St. Gallen auf der Jagd nach dem zweiten Cupsieg. Nebst der erwähnten Finalteilnahmen 2021 und 2022 stand der FCSG noch in den Jahren 1945 (0:2 gegen YB), 1977 (0:1 gegen YB) und 1998 (gegen Lausanne) im Final. Der Final am 1. Juni 1998 war schon fast gewonnen. St. Gallen führte 2:0, als Doppeltorschütze Edwin Vurens zum Penalty antrat und mit dem 3:0 alles hätte klar machen können. Er verschoss, Lausanne erzielte in der Nachspielzeit das 2:2 und siegte im Penaltyschiessen.
Küssnacht am Rigi warf St. Gallen aus dem Cup
In den vergangenen 20 Jahren hatte der FCSG öfters Mühe mit Amateurteams. 2004 etwa gelang beim regionalen Zweitligisten Arbedo nur ein 3:1-Sieg. 2008 musste St. Gallen in Bazenheid in die Verlängerung und gewann mit Ach und Krach 2:0. Ebenfalls in die Verlängerung musste Grün-Weiss 2010 beim FC Flawil, als es nach 90 Minuten 1:1 hiess. Mit vier Toren in der Zusatzzeit resultierte immerhin ein 5:1-Sieg. 2016 knorzten sich die St. Galler gegen die Black Stars Basel zu einem 3:2-Sieg.
Es gibt einen interregionalen Zweitligisten, der dem FC St. Gallen ein Bein gestellt hat. Im Oktober 2005, fünf Jahre nachdem St. Gallen den zweiten Meistertitel der Vereinsgeschichte holte, gewann Küssnacht am Rigi gegen den Superligisten 2:1. Auf dem Sportplatz Luterbach, gleich neben der berühmten Wilhelm Tell’schen «Hohlen Gasse» gelegen, verkürzte Moreno Merenda für das Team des damaligen Trainers Ralf Loose kurz vor Schluss auf 1:2, mehr gelang aber nicht. Die St. Galler hatten den Gegner unterschätzt und mussten Häme über sich ergehen lassen: «Behäbige Espen blamieren sich bis auf die Knochen», war noch eine der harmloseren Schlagzeilen. Ganz nahe an einer Sensation war auch der FC Linth 04, der damals in der Interregio spielte, im September 2017. Der haushohe Favorit zog auf der Näfelser SGU den Kopf erst im Penaltyschiessen aus der Schlinge.
Dass St. Gallen auch anders kann, erfuhr der FC Rorschach-Goldach letztes Jahr schmerzhaft. Die Seebuben wurden auf dem Espenmoos, das als Ersatzort für die besetzte Kellen einsprang, regelrecht von der St. Galler Walze überrollt. 0:15 lautete das Endresultat. 0:9 stand es zur Pause, Julian Von Moos hatte nach gut zwei Minuten bereits zweimal eingenetzt.
Die Atmosphäre aufsaugen und das Spiel geniessen
Unter Trainer Peter Zeidler wird es nicht passieren, dass St. Gallen den Gegner unterschätzt. Widnaus Co-Trainer Daniel Lüchinger, der wegen einer Sperre nicht auf seinem Stuhl Platz nehmen kann, sagt: «Sie sind der haushohe Favorit.» Die Stimmung im Widnauer Team ist fantastisch, die Vorfreude der Spieler riesig. Welcher Amateurkicker kann schon vor 6000 Zuschauenden spielen? «Leider können am Sonntag nur 18 Spieler im Kader stehen», sagt Lüchinger. Trainiert werde normal, wie immer am Donnerstag und am Freitag. Nach dem Donnerstagstraining schwört sich das Team bei einem gemeinsamen Nachtessen auf das Spiel ein. Gegen St. Gallen fehlen wird Cristian Navarro, der am letzten Samstag im Cupspiel gegen die Basler Old Boys eine fragwürdige rote Karte kassierte.
«Dieses Spiel gegen St. Gallen wird kein Spieler mehr vergessen», sagt Lüchinger. «Sie sollen den Tag und die Atmosphäre geniessen und einfach frisch von der Leber weg spielen.» Die über 30 Grad, die herrschen werden, mache die Sache für sein Team nicht einfacher: «Bei dieser Hitze ist es gleich nochmals eine Stufe schwieriger, gegen durchtrainierte Profis zu spielen.» Ein Spiel in dieser Dimension hat es im Rheintal noch nie gegeben: «Das wird ein riesiges Fussballfest.»