Dienstag, 7.15 Uhr, Schulhaus Schöntal. Jener orange Bau, in dem Generationen von Altstätterinnen und Altstätter lesen, schreiben und rechnen gelernt haben. Anita Klaiber ist seit 30 Jahren dort Lehrerin und fährt mit dem Velo auf den Parkplatz, läuft zum Schulhaus, öffnet die Eingangstür und erklimmt die Treppen zum Klassenzimmer, wo sie in einer halben Stunde ihre Dritt- und Viertklässler begrüssen wird. Bis hierher ist alles alltäglich.
Nicht mehr alltäglich ist es kurz später: Kolleginnen und Kollegen haben Klaiber den roten Teppich ausgerollt, Schweizerfahnen werden geschwenkt, die Nationalhymne dröhnt aus den Boxen. Der Grund ist erfreulich: Klaiber wurde keine 48 Stunden vorher in Dänemark Weltmeisterin!
Iron-Bike und Chasing-Cancellara-Rennen
Am vergangenen Sonntag startete Klaiber zum UCI Medio-Fondo-WM-Radrennen, an dem es 114,4 Kilometer mit 946 Höhenmetern zu bewältigen galt. Für dieses musste sie sich qualifizieren: «Rennmässig fahre ich Mountainbike-Marathons. Ich habe im Mai 2024 in La Bresse in den französischen Vogesen erstmals ein Radrennen bestritten», erklärt Klaiber. Dort fuhr sie auf Anhieb auf Rang zwei.
Damit war ich für die WM für das Gran-Fondo-Rennen sowie das Zeitfahren qualifiziert.
Sie absolvierte die Distanz in drei Stunden, einer Minute und 16 Sekunden. Von 147 Frauen fuhren nur zwei vor ihr über die Ziellinie. Weil beide jünger waren, stand fest: «Weltmeisterin der Kategorie 50 bis 54: Anita Klaiber, Switzerland». Sie siegte vor der Belgierin Marijke de Smedt und Helen Miriam Taylor Carter aus Grossbritannien.
«Ich konnte meine Leistung nicht einschätzen. Es ist schwierig, zu wissen, wie die Weltspitze fährt», sagt Klaiber. Lachend fügt sie an, dass das Umfeld ihr einiges zutraute, sie mit den Erwartungen aber zurückhaltend war. Die in Altstätten aufgewachsene Sportlerin hat schon viele Bike-Marathons gewonnen; den Iron-Bike, den Montafoner und die Eiger-Bike-Challenge.
Doch Klaiber ist nicht nur auf dem Bike stark, sondern auch auf dem Rennrad, auf dem sie sich seit fünf Jahren pudelwohl fühlt. «Zweimal fuhr ich das «Chasing Cancellara» von Zürich nach Zermatt im Frauen-Zweierteam. Beide Male gewannen wir.»
Sogar die Doping-Kontrolleurin gratulierte
Die dänische Stadt Aalborg liegt in Jütland und hat 220000 Einwohnende. Velofahren ist in der dänischen Kultur tief verankert. Aushängeschilder sind Jonas Vingegaard, 2022 und 2023 war er Tour-de-France-Sieger, und Mats Pedersen, der Strassenweltmeister von 2019.
Das WM-Rennen startete in Aalborgs Zentrum und führte via Suldrup und Skørping zu-rück an den Startpunkt. «Eher flach, herrliches Wetter und viel Wind», sagt Klaiber zu den Bedingungen. 3200 Startende, in Blöcke nach Alterskategorien aufgeteilt, fünf Minuten Abstand: So ging es los. «In der ersten Hälfte waren wir Frauen unter uns. Niemand wollte führen, um keine «Körner» zu vergeben. Bei Kilometer 65 überholte uns die Kategorie der jüngeren Männer. Dort habe ich mich drangehängt.» Was sich einfach liest, bedeutet: Rapide Tempoverschärfung, hart umkämpfte Positionen. «Es wurde einem nichts geschenkt. Das ungewohnte Fahren im Peloton brachte mich mental an meine Grenzen. Es gab viele massive Stürze.» Einmal wurde auch sie von der Strasse gedrängt. «Ich fuhr über Schotter und Wiese zurück. Zum Glück hatte ich keinen Platten.»
Am Ende blieb die Power für einen Zielsprint. Dieser hat ihr wohl den Sieg gerettet, denn sie gewann mit zwei Sekunden Vorsprung. Im Ziel wartete Giara, ihre Tochter, die ihr Support leistete: «Ohne sie wäre ich nicht nach Dänemark gereist. Sie rief mir, ich sei Weltmeisterin.» Klaiber konnte es nicht glauben.
Erst als sich die Dopingkontrolleurin an meine Fersen heftete und zum Sieg gratulierte, wusste ich, es ist wahr.
Drei Tage vor dem Triumph startete sie im Zeitfahren, ihrem allerersten überhaupt. Die 33,13 Kilometer lange Strecke absolvierte sie in 49:02 Minuten, was in ihrer Kategorie den starken achten Platz bedeutete.
Ein hartes Zeitfahren entlang der Meeresküste
Der Kurs an der malerischen Küste von Limfjord hatte eine Höhendifferenz von 133 Metern. «Im Zeitfahren ist die Haltung gegenüber dem Strassenrennen anders. Die Muskulatur im Nacken und die Beine müssen sich erst daran gewöhnen», erklärt Klaiber. Anfangs bringe man kaum Watt auf die Pedale.
Gestartet wurde im 30-Sekunden-Takt. «Ich fuhr mit Rückenwind von der Startrampe weg», sagt Klaiber. Dann fiel aber die Wattmessung an ihrem Rad aus, sie musste sich auf ihr Körpergefühl verlassen und überholte fünf Fahrerinnen. Am Schluss hatten alle mit starkem Gegenwind zu kämpfen. «Es war sehr hart. Ich hatte für mich einen etwas höheren Temposchnitt erwartet. Aber als ich gelesen habe, welche Titel meine Gegnerinnen schon eingefahren haben, war ich sehr zufrieden mit meinem ersten Zeitfahren.»
Freude über die Erfolge der Vereinskollegin
Die Weltmeisterin ist schon lange im Veloclub Altstätten aktiv. Dort ist die Freude über den Erfolg riesig. VCA-Präsident Marcel Dürr sagt:
Wir sind sehr stolz, eine Weltmeisterin als Mitglied und Kollegin zu haben.
Klaiber trainiert zwischen zehn und 16 Stunden pro Woche, je nach Plan. «Rennrad trainiere ich meist alleine, weil das Intervalltraining in der Gruppe nicht kompatibel ist.» Sie geniesst auch lange Ausfahrten mit den Rheintaler Passjägern. Die nächsten Titelkämpfe finden 2025 in Lorne im australischen Bundesstaat Victoria statt, 2026 in Niseko auf der japanischen Insel Hokkaido. Klaibers Kolleginnen und Kollegen tun gut daran, den roten Teppich nicht allzu weit hinten im Regal zu versorgen.