02.08.2022

«Da muss sofort etwas passieren»

Wanderwegexperte untersucht den Abstieg vom Aescher zum Seealpsee und stellt fest: Der Weg erfüllt bauliche Vorgaben nicht.

Von Raphael Rohner
aktualisiert am 02.11.2022
Acht Menschen sind in den letzten fünf Jahren auf dem Wanderweg zwischen dem Aescher und dem Seealpsee zu Tode gestürzt. Vor zwei Wochen stürzten an ein und derselben Stelle gleich zwei Wanderer in den Tod. Jeden Tag nehmen mehrere hundert Gäste den Abstieg unter die Füsse. Angelockt durch zahllose Posts auf Instagram, Facebook und Tourismus-Werbung auf der ganzen Welt. Bei Wanderern und Gästen wurden nach den letzten Unglücksfälle Forderungen laut, den Weg mit baulichen Massnahmen zu sichern und die gefährlichsten Stellen zu entschärfen. Nun hat Ruedi Spiess, Wanderwegexperte aus Bern, für diese Zeitung den baulichen Zustand des Wegs analysiert. Er hat bereits mehrere tausend Kilometer Wanderwege im Auftrag diverser Tourismusregionen und Kommunen, auf ihre Sicherheit und Qualität überprüft und führt Kurse für Bau und Unterhalt von Wanderwegen durch.Touristische Nutzung stellt Bergwanderweg in FrageDie Häufigkeit der tödlichen Unfälle zwischen Aescher und Seealpsee haben den Experten stutzig gemacht. «Wenn so oft Unglücke passieren, kann das nicht allein die Schuld der Wanderer sein. Da muss mehr dahinter stecken», sagt Spiess. Er hat jeden einzelnen Wegabschnitt zwischen Aescher und Seealpsee analysiert und ist zum Schluss gekommen: «Wenn ich einzelne Passagen genau betrachte, sehe ich sofortigen Handlungsbedarf. Da müssen einige Stolperfallen sofort aus dem Weg geräumt werden.» Auf seinen Zertifizierungstouren hat der Wanderwegexperte immer eines im Blick: «Ich schaue mir die Wege immer aus der Sicht der Wanderer an und überprüfe die Gefahr für ungeübte Wanderer – wie sie auf dieser Strecke oft unterwegs sind.» Spiess sagt: «Die baulichen Vorgaben für einen sicheren Wanderweg erfüllt der Weg vom Aescher zum Seealpsee teilweise nicht.» Der Weg weise «viele Stolperfallen, wie lose Steine, herausragende Armierungseisen und lose Tritt-Elemente auf, die zu schweren Unfällen führen können». Der Zahn der Zeit habe den baulichen Massnahmen deutlich zugesetzt, gerade auf der Wegpassage, wo es wenige Meter nebenan rund hundert Meter in die Tiefe geht. «Da läuft es mir kalt den Rücken hinunter.»Das Grundregelwerk des Bundes zum sicheren Bau von Wanderwegen  zeigt, wie Bergwanderwege baulich abgesichert werden sollten, insbesondere in der Nähe touristischer Hotspots. Im Leitfaden wird explizit auf die Situation, wie sie zwischen Aescher und Seealpsee ist, eingegangen: «Der Ausbaugrad eines Weges wird unter anderem auch durch die Benützungsfrequenz und das Zielpublikum bestimmt.» Warum ausgerechnet beim Warnhinweis beim Berggasthaus Aescher fälschlicherweise ein Wegweiser mit der gelben Signalisation «Wanderweg» hängt, ist eine Frage, die auch den Experten beschäftigt: «In diese Richtung müssten die Überlegungen der örtlichen Behörden eigentlich gehen: den Weg baulich zu entschärfen und zu einem harmlosen gelben Wanderweg zu machen.» Spiess sieht jedoch auch, dass das falsche Verhalten und die Unwissenheit einiger Wanderer Probleme seien, welche die Verantwortlichen ins Auge fassen müssten.Keiner Sicherung an gefährliche WendenSpiess ergänzt: Viele Stellen seien trotz der Kritik jedoch gut gebaut und gepflegt. Die Wenden bei Düschrennen, oberhalb der Felswand, wo kürzlich die zwei Wanderer zu Tode gestürzt sind, seien besonders gefährlich: «Hier liegen teils einfach Gleisstücke als Tritte im Weg und die Anordnung der Sicherungsseile ist ungenügend. Und die Talseite weist gar keine Sicherungen vor und den Abgrund hinter den Bäumen nimmt niemand wahr. Hier gehört ein Zaun hin, wie es in den baulichen Vorgaben vom Bund steht.» Auch seien die Tritte an mehreren Orten mehr Stolperfalle als Hilfe. Man könne dies einfach verbessern, indem man sie entferne oder entschärfe.«Ein Ansatz könnte sein, die Löcher mit festem Material aufzufüllen, wie es von der Bergstation der Ebenalp zum Aescher gemacht wurde, und hervorstehendes Material wie Eisenstangen und loses Material entfernen.» Davon ist man auf dem Weg vom Aescher zum Seealpsee noch weit entfernt.An kritischen Stellen Geländer anbringen?Der Ressortverantwortliche Bezirksrat des Bezirks Schwende-Rüte und Bergwirt der Meglisalp Sepp Manser will trotz der Kritik an der Art und Weise des Weges festhalten: «Natürlich ist jeder Unfall auf unseren Wanderwegen ein Unfall zu viel. Doch soll dieser Bergwanderweg meiner Meinung nach ein Bergwanderweg bleiben. Betonieren kommt schon gar nicht in Frage. Dagegen wehre ich mich vehement.» Es sei dem Bezirksrat ein Anliegen, den Weg sicherer zu machen, doch seien Geländer an den kritischen Stellen vorerst keine Option: «Wenn wir diesen Weg so absichern, werden die Touristen am Ende noch denken, alle Bergwanderwege im Alpstein wären so leicht zu begehen – und das sind sie halt einfach nicht.»[caption_left: Warnhinweis auf dem Abstieg vom Aescher zum Seealpsee.]Als Sofortmassnahme wurde das hohe Gras am Weg gestutzt, damit die Wanderer besser erkennen, dass es wenige Meter neben dem Weg ins Nichts geht. «Wenn die Wanderer Tiefblick haben, passen sie offensichtlich besser auf», sagt Manser, der auch Appenzellerland Tourismus präsidiert. Er zieht den Vergleich mit dem Lisengrat: «Dort fährt die Säntisbahn auch in unmittelbarer Nähe und es passiert eigentlich nie etwas, weil sich die Wanderer der Gefahr sichtlich bewusst sind.» Manser sagt, man habe den Bergwanderweg zwischen Aescher und Seealpsee 2004 vom Bund begutachten lassen und prüfe seinen Zustand so häufig wie kaum eine andere Strecke im Alpstein. «Erst drei Tage vor den letzten Unfällen wurde der Zustand der Weg geprüft.»Der Weg vom Aescher zum Seealpsee verbindet zwei touristische Hotspots, mit denen unter anderem Schweiz Tourismus auf der ganzen Welt wirbt. Spiess fragt sich: «Dieser schweizweit einzigartige Umstand muss bei den Verantwortlichen doch zu einem Umdenken führen.»  Denn auch juristisch dürfte diese Ausgangslage eine besondere Herangehensweise bei der Aufarbeitung der vergangenen Unglücke verlangen. Im Leitfaden des Bundes ist klar beschrieben, wie die strafrechtliche Ausgangslage ist: «Bestehen Anzeichen dafür, dass ein Weg ungenügend gesichert war, wird die Staatsanwaltschaft von Amtes wegen eine Strafuntersuchung einleiten und näher prüfen, ob der Tatbestand der fahrlässigen Tötung oder schweren Körperverletzung erfüllt ist.» Eine Anfrage bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell Innerrhoden blieb bislang unbeantwortet.Experte rät zu agieren, Behörde wartet abDer Bezirksrat will am 18. August mögliche Massnahmen besprechen. Ebenso soll ein Expertenteam die Strecke in nächster Zeit noch einmal unter die Lupe nehmen und auf die Sicherheit prüfen. Den Zeitpunkt dieser Begehung kann Bezirksrat Manser noch nicht nennen. Den Weg jetzt während der Hauptsaison zu sperren, sei aber kein Thema, sagt Manser klipp und klar.Spiess versteht das zögernde Handeln der Behörden nicht: «Es geht hier um nichts Geringeres als um Menschenleben. Da muss es doch im Interesse der Verantwortlichen sein, als Sofortmassnahmen die gefährlichen Stolperfallen zu beseitigen.» Die Aussagen des verantwortlichen Bezirksrats sorgen beim Experten für Kopfschütteln: «Diesen Wanderweg nicht im Kontext der grossen Besucherzahlen zu beurteilen und einfach weiterzumachen wie bisher, ist nach meinem Verständnis fahrlässig – diplomatisch ausgedrückt.»Er fügt hinzu: «Es fragt sich, ob es nicht sinnvoll wäre, zum Wohle der – notabene zahlenden – Kundschaft, den Weg so weit baulich zu entschärfen, dass den Touristen nicht nur eine wunderschöne Landschaft, sondern auch ein sicherer Wanderweg angeboten wird.»

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