30.11.2020

«Covid hat ein Gesicht bekommen»

«Es ist so, als läge eine bedrückende Glocke über dem Haus», sagt Spitalseelsorgerin Marlies Schmidt-Aebi.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Es ist ein kalter Morgen im November. Die Sonne scheint über Altstätten und schenkt ein wenig Wärme. Sie vermittelt ein wohliges Gefühl in einer aussergewöhnlichen Situation.Die Schreibende ist mit Marlies Schmidt-Aebi verabredet, möchte mit der Spitalseelsorgerin über ihre Arbeit sprechen, darf sie aber nicht auf ihrem Weg über die Spitalflure begleiten. Grund ist nicht der Persönlichkeitsschutz der Patientinnen und Patienten. Es ist das Schutzkonzept in der Pandemie.Die beiden Frauen treffen sich vor dem Spital. Es mutet  skurril an. Die Zugänge zum Haupteingang sind gesperrt. Jene Menschen, die Angehörige besuchen möchten, lassen sich von den aufgestellten Schildern leiten und gelangen über den Notfalleingang zur Rezeption. Die Spitalmitarbeiterin kennt sich mit den Regeln aus, löst die kleine Verunsicherung auf und führt zum sonnigen Sitzplatz.Trifft man sonst eine reformierte Pfarrerin, trägt sie einen Talar oder Strassenkleidung. Marlies Schmidt hat eine weisse Hose und einen blauen Kasack angezogen. «Die Tracht hat einen hygienischen Aspekt und weist mich als Krankenschwester aus», sagt sie. Die mit dem Coronaschutzkonzept eingeführte Berufskleidung verdeutlicht, die Pfarrerin ist eine Mitarbeiterin des Spitals und ins Team der Pflegerinnen und Pfleger integriert. Marlies Schmidt ist Seelsorgerin. Sie sorgt sich um die Seele der Patienten, pflegt sie – in der persönlichen Begegnung am Krankenbett, in Gottesdiensten, bei Abschieden und an der Weihnachtsfeier. «Wir Seelsorger und unsere Arbeit werden in der Spitalregion geschätzt», sagt sie. Anders als den Religionsunterricht an den Schulen, stellt ihren Job niemand in Frage. «Man vertraut uns und der Kirche, die wir den Menschen zeigen.»Covid-19 hat Barrieren errichtetMarlies Schmidt ist dankbar für die positiven Erfahrungen. Gerade in der Pandemie. «Die Bedrohung von aussen schweisst innen zusammen», sagt sie. Sie weiss nicht, was sie nächste Woche erwartet. «Wir sind in einem Ausnahmezustand.» Etwa im Rhythmus von zwei Wochen werden neue Auflagen erlassen, die dem Schutz der Mitarbeiter und Patienten dienen. «Es ist eine buchstäblich verrückte Welt.» Nahezu alles hat sich verschoben, kaum mehr etwas läuft in gewohnten Bahnen ab. «Es braucht viel Energie, sich in der neuen Spur zu halten.»Covid hat Barrieren errichtet. Eine, die die Seelsorgerin zu überwinden hat, ist die eigene Angst, sich mit dem Coronavirus anzustecken. «Es ist meine Art, Patienten Nähe zu geben», sagt sie und muss nun den Abstand wahren. Auch bereitet sie jeden Besuch mit Schutzmassnahmen vor. Darunter leidet ihre Spontanität. «Es ist so, als läge eine bedrückende Glocke über dem Haus.»Das Rheintal war von der ersten Welle nicht so stark betroffen, wie es die Region heute ist. Das Virus ist näher gekommen, Menschen aus dem eigenen Dorf erkranken oder sterben an ihm. «Covid hat ein Gesicht bekommen. Ich besuche Covid-Patienten, die ich kenne», sagt Marlies Schmidt. «Das Virus fordert uns heraus, hat uns am Wickel und diktiert unser Leben.»Die Kapazität der Intensivstation ist in der Spitalregion bisher nicht erschöpft. «Wir müssen noch nicht in die Triage», sagt die Seelsorgerin. «Ich habe Respekt davor, einmal Menschen wie Güter abwägen zu müssen.» Sie mag keinem Angehörigen sagen müssen, dass für seinen Vater kein Platz ist. Als Mitglied der Ethikkommission kennt Marlies Schmidt die Richtlinien. «Ich bin theoretisch vorbereitet und hoffe jeden Tag, dass ich nicht in die Praxis muss.»Sie rühmt die Spitalregion dafür, wie sie mit der Pande­-mie umgehe. Professionell und menschlich. Man bietet Hand in schlimmen Situationen und sucht Lösungen, damit jeder Angehörige zu seinem Besuchsrecht kommt. «Niemand muss Angst haben, ins Spital eingeliefert zu werden. Jeder ist sicher.» Das Schutzkonzept greife. Covid schliesst allerdings die absolute Sicherheit aus. Bei aller Tragik der Pandemie, im Spital werden immer auch noch andere schwere Fälle behandelt. «Wir dürfen nicht nur an Covid denken. Es gibt auch andere schwere Schicksale. Zusätzlich.»Die vierte Dimension«Merkst du, dass deine dreidimensionale Welt nicht mehr funktioniert, brauchst du eine vierte Dimension», sagt die Theologin. «Der Mensch erkennt, dass er nicht alles im Griff hat.» Diese Perspektive unterscheidet die Pfarrerin von einer Psychologin oder Psychiaterin. «Die Patienten beten jetzt häufiger, reden mehr über den Sinn ihres Lebens und die eigene Sterblichkeit.» Die Pandemie führte das in den Fokus. Viele finden Trost im Glauben – an eine Religion oder etwas Höheres. «Ich verwende gern das Bild des Karabiners. Er ist über dir und gibt dir Halt.»SpitalseelsorgePfarrerin Marlies Schmidt-Aebi wirkt als Spitalseelsorgerin in Altstätten und Grabs. Die evangelisch-reformierte Theologin war bis ins Jahr 2010 Pfarrerin in Berneck. Im Jahr 2006 nahm sie ihre Arbeit in der Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland (SR RWS) auf. Diese organisierte seinerzeit die Seelsorge neu. Seither sind die Seelsorgerinnen und Seelsorger Angestellte der Spitalregion und werden nicht mehr von extern hinzugezogen. Als katholische Theologinnen wirken Anne Kleymans-Heither (in Altstätten) und Ulrike Wolitz (in Grabs) als Spitalseelsorgerinnen. Im Spital Wa­lenstadt ist der evangelische Pfarrer Markus Walser.

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